Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)
1912 trat die neugewählte Vierte Duma zusammen. In ihr hatte die Rechte die Mehrheit; über die Hälfte der Abgeordneten waren Adlige. Einen Ruck nach rechts ließen auch andere Ereignisse erkennen. Seit 1911 nahmen die Ausweisungen von Juden aus Gebieten außerhalb der Ansiedlungsrayons systematische Züge an. Im September 1913 begann in Kiew auf Betreiben des Innen- und des Justizministeriums ein Ritualmordprozeß gegen den Juden Menachem Mendel Bejis, dem vorgeworfen wurde, einen christlichen Schüler zu rituellen Zwecken umgebracht zu haben. Obwohl das Verfahren, das auf gefälschten «Beweisen» beruhte, mit einem Freispruch endete, war es für das Ansehen des Zarenregimes im In- und Ausland höchst abträglich. Dasselbe galt vom Fall Rasputin. Der Wanderprophet und Wunderheiler Grigorij Rasputin, ein Bauer aus dem sibirischen Tobolsk, hatte seit 1907 immer mehr Einfluß auf die Zarin Alexandra gewonnen, was sich auch in wichtigen personalpolitischen Entscheidungen niederschlug und auf wachsende, aber lange Zeit folgenlose öffentliche Kritik stieß. Das Mittel, das der Affäre schließlich ein Ende bereitete, war an Radikalität nicht zu übertreffen: Im Dezember 1916 wurde Rasputin von Angehörigen des Hochadels ermordet.
Die Bolschewiki waren in der Vierten Duma mit fünf Abgeordneten vertreten. Einer von ihnen war der aus Russisch-Polen stammende rhetorisch begabte Arbeiter Roman Malinowsky, der zum Fraktionsvorsitzenden bestellt wurde. Er genoß das besondere Vertrauen Lenins, der zu dieser Zeit im galizischen Krakau lebte. Die revolutionären Reden, die Malinowsky in der Duma hielt, wurden meist von Lenin verfaßt. Am 7. Mai 1914 forderte Malinowsky in der Duma, ohne zuvor mit seinen Fraktionskollegen und der Parteiführung gesprochen zu haben, die Abgeordneten des linken Flügels, also Sozialdemokraten und Sozialrevolutionäre, auf, ihre Mandate niederzulegen, weil sie durch ihre Anwesenheit lediglich das Prestige der Reaktion erhöhten. Bald danach machten Berichte die Runde, daß Malinowsky Agent der Ochrana sei und Genossen an sie verraten habe. Die Behauptung traf zu, wie sich nach der Revolution vom März 1917 zweifelsfrei herausstellte. Malinowskys Rückzug aus der Duma war vom Innenministerium angeordnet (und mit 6000 Rubel vergütet) worden, weil das Doppelspiel des Abgeordneten mittlerweile als zu gefährlich galt. Ende 1918 wurde Malinowsky von einem bolschewistischen Revolutionstribunal zum Tode verurteilt und tags darauf erschossen. Die Unterwanderung der radikalsten aller Oppositionsgruppen durch die zarische Geheimpolizei hatte den Bolschewiki nur einen vorübergehenden, aber keinen nachhaltigen Schaden zugefügt.[ 33 ]
Krieg als Krisenlösung? Das wilhelminische Deutschland 1909–1914
Im Unterschied zu den russischen Sozialdemokraten hatten die deutschen den Vorteil, Politik in einem Rechtsstaat betreiben zu können. Illegale Methoden des politischen Kampfs kamen für sie nicht in Frage, solange sie sich parlamentarisch und außerparlamentarisch frei betätigen konnten. Obgleich sie im Kaiserreich nach wie vor vielfacher Diskriminierung ausgesetzt waren, übten sie und die ihnen nahestehenden Freien Gewerkschaften gesellschaftliche und politische Macht aus. Die Sozialdemokratie war eine mitgliederstarke Massenbewegung, die sehr viel mehr zu verlieren hatte als ihre Ketten. Ihre Wahlerfolge hatten ihr einen Einfluß verschafft, den sie nicht durch Radikalismus aufs Spiel setzen wollte. Mochte sie die bestehende Gesellschaftsordnung in ihren programmatischen Aussagen auch verwerfen, so war sie doch längst in sie hineingewachsen. Eine «revolutionäre» Partei war die SPD in den Jahren vor 1914 nicht mehr – wenn sie denn je eine gewesen war.
Oppositionell aber war die Sozialdemokratie sehr wohl, und das deutlich zu machen, boten ihr die Reichsleitung und die bürgerlichen Parteien immer wieder Gelegenheit. Am 8. und 9. November 1911 etwa debattierte der Reichstag die internationale Lage, wie sie sich während der zweiten Marokkokrise entwickelt hatte. Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg wies Gedanken an einen Präventivkrieg, wie sie in der Öffentlichkeit laut geworden waren, scharf zurück, aber die Redner der Konservativen und Nationalliberalen beschworen die Ehre und die Weltgeltung Deutschlands in einer Weise, die durchaus kriegerisch klang.
Es blieb August Bebel vorbehalten, vor den Gefahren nationaler Prestigepolitik zu warnen. Um zu verdeutlichen, mit welchem
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