Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)

Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)

Titel: Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich August Winkler
Vom Netzwerk:
Nur die beiden konservativen Fraktionen, die Deutschkonservativen und die Freikonservativen, stimmten gegen den ersten Mißbilligungsantrag in der Geschichte des deutschen Reichstags.
    Die Meinungsäußerung der Abgeordneten hatte keine politischen Folgen. Der Reichskanzler war nicht auf das Vertrauen des Parlaments angewiesen, und Bethmann Hollweg sprach das nach der Abstimmung auch offen aus. Hinter den Kulissen geschah zwar einiges, was eine Eindämmung der Militärwillkür bezweckte: Eine Mißbilligung durch den Kaiser und König, auch eine faktische Strafversetzung der beiden in Zabern stationierten Bataillone und ein nie veröffentlichter Erlaß zum Waffengebrauch gehörten dazu. Das Kriegs- und das Oberkriegsgericht in Straßburg stellten sich in der Regel auf die Seite der beschuldigten Offiziere und gegen die Soldaten, die die Presse informiert hatten.
    Doch nicht in den Ereignissen vom November 1913, ihrem öffentlichen Widerhall und ihren juristischen Folgen lag der eigentliche Skandal der Zabern-Affäre, sondern in dem Verfassungszustand, den die Krise schonungslos enthüllte: der Machtlosigkeit von Reichstag, Reichskanzler und Kriegsminister in Fragen der königlichen Kommandogewalt. Im Ernstfall zeigte der preußische Soldatenstaat dem Verfassungsstaat, wo seine Grenzen lagen. Der Absolutismus war im zivilen Leben überwunden. Auf dem Gebiet des Militärs aber lebte er fort. Aus der Sicht royalistischer Altpreußen war das auch notwendig, um eine Parlamentarisierung Deutschlands zu verhindern. Der konservative Abgeordnete Elard von Oldenburg-Januschau brachte diese Überzeugung auf ebenso provozierende wie klassische Weise zum Ausdruck, als er sich am 29. Januar 1910, gut ein halbes Jahr nach dem Regierungsantritt Bethmann Hollwegs, zu einer, wie er behauptete, «alten preußischen Tradition» bekannte: «Der König von Preußen und der Deutsche Kaiser muß jeden Moment imstande sein, zu einem Leutnant zu sagen: Nehmen Sie zehn Mann und schließen Sie den Reichstag!»
    Die Frage, wer im deutschen Kaiserreich im Ernstfall das Sagen hatte, das Militär oder die Politik, und auf welcher Seite der Kaiser stand, beschäftigte nicht nur die Deutschen. Sie war auch für die anderen Großmächte von höchster Bedeutung. Zu Beginn des Jahres 1912 wurde Großbritannien auf exemplarische Weise mit der ungelösten Machtfrage innerhalb der Reichsleitung konfrontiert. Unterstützt von Albert Ballin und dem britischen Bankier Sir Ernest Cassel, war es Reichskanzler von Bethmann Hollweg gelungen, die britische Regierung für vertrauliche Sondierungsgespräche über alle Aspekte der wechselseitigen Beziehungen, einschließlich der Flotten- und der kolonialen Frage, zu gewinnen. Zum Unterhändler bestimmte Premierminister Asquith Kriegsminister Lord Haldane, der in Göttingen studiert hatte und fließend deutsch sprach.
    Am 7. Februar, einen Tag vor der Ankunft Haldanes, kündigte Wilhelm II. in einer Thronrede eine neue Flottennovelle an, was in England erhebliche Unruhe auslöste. Bei den Verhandlungen in Berlin bestand die deutsche Seite auf einem bedingungslosen Neutralitätsversprechen Englands für den Fall, daß Deutschland mit einer anderen Macht in einen Krieg verwickelt werden sollte. Auf diese Forderung konnte Großbritannien nicht eingehen, ohne die Entente cordiale mit Frankreich preiszugeben. Unannehmbar war auch Tirpitz’ Forderung, England möge, wenn es Deutschland zu Abstrichen an seiner geplanten Flottenrüstung, dem Bau von drei Linienschiffen, bewegen wolle, ein deutsch-britisches Stärkeverhältnis zur See von 2: 3 (statt des britischen Standard 1: 2) zugestehen. Hätte London sich darauf eingelassen, wäre es nicht mehr in der Lage gewesen, seine Rolle als Führungsmacht des Empire zu behaupten. Umgekehrt wollte sich Deutschland aus Rücksicht auf seine Verpflichtungen gegenüber Österreich-Ungarn nicht mit einer britischen Neutralitätszusage begnügen, die auf den Fall eines zweifelsfreien Verteidigungskrieges beschränkt war.
    Da Haldane getrennte Gespräche erst mit dem Reichskanzler, dann mit dem Kaiser und Tirpitz und danach erneut mit Bethmann Hollweg führte, konnte es für ihn keinen Zweifel daran geben, daß nur der Reichskanzler an einer Verständigung mit London ein wirkliches Interesse hatte, während der Monarch und der Staatssekretär des Reichsmarineamtes nichts Geringeres bezweckten als die Sprengung der Tripelentente (und Wilhelm II. darüber hinaus sich der Illusion hingab, er

Weitere Kostenlose Bücher