Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)
könne England für sein Projekt «Vereinigte Staaten von Europa gegen Amerika» gewinnen). Entsprechend negativ fiel in London die Bewertung von Haldanes Berliner Gesprächen aus. Wilhelm II. zeigte sich daraufhin so unversöhnlich und kriegerisch, daß Bethmann Hollweg am 6. März 1912 sein Abschiedsgesuch einreichte. «Wird uns der Krieg aufgenötigt, so werden wir ihn schlagen und mit Gottes Hilfe nicht dabei untergehen», schrieb er an den Kaiser. «Unsererseits aber einen Krieg heraufbeschwören, ohne daß unsere Ehre oder unsere Lebensinteressen tangiert sind, würde ich für eine Versündigung an dem Geschicke Deutschlands halten, selbst wenn wir nach menschlicher Voraussicht den völligen Sieg erhoffen könnten. Aber auch das ist, jedenfalls zur See, nicht der Fall.»
Zur Entlassung des Reichskanzlers, der im Ausland und namentlich in Großbritannien beträchtliches Ansehen genoß, war Wilhelm dann doch nicht bereit. Einen Augenblick lang war er sogar geneigt, den von Bethmann Hollweg geforderten Abstrichen an der Flottenrüstung zuzustimmen, ließ sich dann aber durch eine Rücktrittsdrohung von Tirpitz davon wieder abbringen. Die Verhandlungen mit England wurden fortgesetzt, aber ohne realistische Aussicht auf eine Einigung. Bethmann Hollweg blieb zwar zur Beruhigung Londons im Amt, in der Sache aber hatten sich in Berlin die militärstrategischen Interessen gegenüber den politischen Überlegungen durchgesetzt und Europa damit dem großen Krieg ein Stück näher gebracht. Bebel, der beharrliche Warner vor der Katastrophe, hatte schon im Herbst 1910 begonnen, die Regierung in London über den mit ihm befreundeten britischen Generalkonsul in Zürich zu verstärkter Flottenrüstung aufzufordern. Seit Anfang 1912 wurden seine Mahnungen dringlicher: Vermehrte militärische Anstrengungen Großbritanniens waren das einzige Mittel, von dem er sich eine positive Wirkung auf die Reichsleitung versprach.
Die Vergrößerung der Kriegsflotte war nicht das einzige rüstungspolitische Vorhaben, das die Reichsleitung Anfang 1912 verfolgte. Am 21. Mai, eine Woche nach der Verabschiedung der Flottennovelle, nahm der Reichstag mit den Stimmen aller bürgerlichen Parteien eine Gesetzesvorlage an, die die Vermehrung des Heeres um 29.000 Mann vorsah. Ein knappes Jahr später stand, ausgelöst durch den Ersten Balkankrieg, die nächste Rüstungsrunde auf der Tagesordnung. Im März 1913 forderte die Reichsleitung eine schrittweise Vermehrung des Heeres um 117.000 Soldaten, 15.000 Unteroffiziere und 4000 Offiziere, zusammen also 136.000 Mann, bis Oktober 1915. Im Juni stimmte der Reichstag dem Gesetzentwurf zu. Mittelbar verhalf auch die SPD, die in der Schlußabstimmung mit Nein stimmte, der Vorlage zum Erfolg. Die Sozialdemokraten hatten nämlich zuvor für ein Gesetz gestimmt, das die Heeresvermehrung finanziell ermöglichte: Die von den Konservativen leidenschaftlich bekämpfte Vermögenszuwachssteuer war aus der Sicht der Sozialdemokratie ein erster Schritt zu der von ihnen seit langem verlangten Reichseinkommens-, Vermögens- und Erbschaftssteuer.
Die forcierte Aufrüstung war 1913 nicht der einzige Beitrag Deutschlands zur Verschlechterung der internationalen Beziehungen. Im Oktober verständigten sich die Türkei, die große Verliererin des Ersten Balkankrieges, und das Deutsche Reich auf eine grundlegende Reform des osmanischen Heerwesens unter deutscher Leitung. Wilhelm II. sprach bei der Abschiedsaudienz für die Mitglieder der deutschen Militärkommission unter Generalleutnant Otto Liman von Sanders am 9. Dezember 1913 unverhohlen von der «Germanisierung der türkischen Armee durch Führung und unmittelbare Kontrolle der Organisationstätigkeit des türkischen Kriegsministeriums» und nannte als Ziel unter anderem die «Unterstützung und Entwicklung der türkischen Militärmacht in Kleinasien so weit, daß sie als Gegengewicht gegen die aggressiven Absichten Rußlands dienen kann».
Liman von Sanders wurde nicht nur zum Generalinspekteur der osmanischen Armee und zum Kommandeur aller Heeresschulen ernannt. Er befehligte auch als Kommandierender General das 1. Armeekorps, dem die Verteidigung von Konstantinopel und der Meerengen oblag. Da Rußland nach wie vor die Herrschaft über die Verbindungswege zwischen dem Schwarzen und dem Mittelmeer erstrebte, empfand es das deutsche Vorgehen als unfreundlichen Akt und protestierte schärfstens. Ein Krieg zwischen beiden Kaiserreichen schien unmittelbar bevorzustehen,
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