Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)
konnten für ungetaufte deutsche Juden nur solche Parteien werden, die sich dem Antisemitismus entschieden widersetzten. Das taten die liberalen Parteien, namentlich die linksliberalen, und die Sozialdemokratie. Die Arbeiterbewegung verdankte ihre weltanschauliche Prägung zu einem erheblichen Teil jüdischen Intellektuellen. Den organisierten Linksliberalismus der Wilhelminischen Ära konnte man sich ohne das wohlhabende und gebildete jüdische Bürgertum großer Städte wie Berlin, Hamburg, Frankfurt am Main oder Breslau gar nicht vorstellen. Die liberale Presse war auf den materiellen Rückhalt im jüdischen Bürgertum ebenso angewiesen wie auf die intellektuelle Produktivität jüdischer Journalisten. Ob «Frankfurter Zeitung», «Berliner Tageblatt» oder «Vossische Zeitung»: Was es an großen liberalen Blättern im Deutschen Reich gab, bezeugte den Einfluß von jüdischem Geist und Geld. Die Antisemiten wußten, warum sie den «jüdischen» Liberalismus und die «Goldene Internationale» des Bankkapitals nicht minder scharf angriffen als den «jüdischen» Marxismus und die «rote Internationale».
Ob der Antisemitismus in Deutschland vor 1914 weiter verbreitet war als in Frankreich, ist fraglich. Aber eine intellektuelle und politische Solidarisierung mit den Juden, wie sie Frankreich anläßlich der Dreyfus-Affäre erlebte, hat es in Deutschland nie gegeben. Die freiheitlichen Gegengewichte zu den freiheitsbedrohenden Bestrebungen der Judenfeinde waren in der Dritten Republik sehr viel stärker als im wilhelminischen Reich.
Antisemitismus gab es auch im zeitgenössischen England, aber verglichen mit Deutschland und Frankreich bildete er alles in allem eine Randerscheinung. Dasselbe gilt für den Antiparlamentarismus. Ein Politiker wie Alfred Milner, der das britische politische System für untauglich erklärte, weil es der Weltrolle des Vereinigten Königreichs nicht gerecht werde, war ein krasser Außenseiter. Bücher wie die von Bernhardi und Claß fanden im deutschen Bürgertum breite Zustimmung. In Großbritannien wären vergleichbare Schriften ähnlich einflußreicher Autoren nicht nur, wie in Deutschland, in der Arbeiterbewegung, sondern auch im bürgerlichen Liberalismus auf schärfsten Widerspruch gestoßen. Das wilhelminische Deutschland war in viel höherem Maß als England oder Frankreich ein von obrigkeitlichen Traditionen geprägtes Land. So demokratisch sein Reichstagswahlrecht war, so rückständig waren sein Regierungssystem und seine politische Kultur, wenn man sie mit England, Frankreich oder den skandinavischen Staaten verglich – von den Vereinigten Staaten von Amerika ganz zu schweigen.
Selten trat die vordemokratische Seite der deutschen Verhältnisse so klar in Erscheinung wie im Spätjahr 1913. Am 6. November berichtete eine elsässische Zeitung, der «Zaberner Anzeiger», von grob beleidigenden und feindseligen Äußerungen, die der preußische Leutnant von Forstner vor Rekruten über die «Wackes» getan hatte – ein Ausdruck, der die Elsässer herabsetzen sollte. Die Angelegenheit wäre vermutlich noch zu bereinigen gewesen, hätte der Kommandierende General von Deimling Forstner nicht nur mit sechs Tagen Stubenarrest, sondern, wie der Statthalter Graf Wedel es forderte, mit der Versetzung in ein anderes Regiment bestraft. Da dies nicht geschah, trat keine Ruhe ein. Vielmehr häuften sich in Zabern Demonstrationen, Zusammenstöße von Soldaten und Zivilisten sowie Festnahmen durch das Militär.
Ende November und Anfang Dezember 1913 befaßte sich der Reichstag mit den Vorfällen. Der preußische Kriegsminister von Falkenhayn erklärte den Abgeordneten, weder er selbst noch der Reichstag besitze eine Zuständigkeit, was die Kontrolle der Disziplinarstrafen betreffe, da diese dem Kommandobereich, also der königlichen Gewalt, angehörten. Reichskanzler von Bethmann Hollweg setzte sich in so vorsichtiger Form vom Verhalten der Militärbehörden ab, daß die Volksvertreter dies als Herausforderung empfanden. Als der Kanzler am 4. Dezember auch noch ausdrücklich sein Einverständnis mit dem Kriegsminister betonte, überspannte er den Bogen endgültig. Mit der überwältigendem Mehrheit von 293 gegen 54 Stimmen bei 4 Enthaltungen stimmten die Abgeordneten einem tags zuvor von der Fortschrittlichen Volkspartei eingebrachten Antrag zu, der Reichstag möge beschließen, daß die Behandlung der Zaberner Angelegenheit durch den Reichskanzler nicht der Anschauung des Hauses entspreche.
Weitere Kostenlose Bücher