Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)
abhalte, zu «Gerechtigkeits-, Menschen- und Wahrheitsliebe» hindurchzudringen, nämlich ihre doppelte Moral und ihr Glaube an einen menschenverachtenden Gott. Menschenrechte müßten die Juden zwar haben, «ob sie gleich uns dieselben nicht zugestehen … Aber ihnen Bürgerrechte zu geben, dazu sehe ich wenigstens kein Mittel als das, in einer Nacht ihnen allen die Köpfe abzuschlagen und andere aufzusetzen, in denen auch nicht eine jüdische Idee sei. Um uns vor ihnen zu schützen, dazu sehe ich wieder kein Mittel, als ihnen ihr gelobtes Land zu erobern und sie alle dahin zu schicken.»[ 43 ]
An den Nationalismus des revolutionären Frankreich erinnerten bei den frühen deutschen Nationalisten der umfassende Anspruch der Nation an den Einzelnen und die Nachahmung christlicher Glaubensinhalte und Rituale. Aber Fichte, Jahn und Arndt hüteten sich vor einem Bruch mit dem Christentum im allgemeinen und dem Protestantismus im besonderen. Sie sahen sich geradezu als die Testamentsvollstrecker der Reformation, und wenn ihr Nationalismus auch alle Züge einer politischen Religion aufwies, so wollten sie ihn doch nicht an die Stelle der überlieferten Religion setzen, sondern diese der neuen Botschaft anpassen. Die Gründerväter des deutschen Nationalismus mußten das schon deshalb tun, weil sie Preußen oder Wahlpreußen waren. Preußen war die evangelische Macht in Deutschland, und eine Einigung Deutschlands erschien ihnen nur möglich, wenn ein erneuertes Preußen an die Spitze der nationalen Bewegung trat. Der frühe deutsche Nationalismus legte es daher nicht darauf an, dem älteren preußischen Staatspatriotismus den Kampf anzusagen. Er versuchte vielmehr, diesen in sich aufzunehmen.
Aus alledem ergab sich der widersprüchliche Charakter des frühen deutschen Nationalismus. Er war «modern», weil er auf eine grundlegende Erneuerung der politischen Verhältnisse Deutschlands und Europas zielte. Da er sich, um seine Ziele zu erreichen, mit der alten Ordnung, vertreten durch Preußen, verbünden mußte, wirkte er aber, gemessen am französischen Nationalismus, rückständig. Er betonte seine Nähe zu den ursprünglichen Ideen von 1789 und widersprach ihnen doch mit seinem reaktionären Juden- und Franzosenhaß zutiefst. Er beschwor die Freiheit und ließ sie nicht gelten, wenn es darum ging, zu bestimmen, wer Deutscher war und wer nicht. Er berief sich auf die Vernunft und wandte sich zugleich radikal von der Aufklärung ab. Er erhob den Anspruch auf die Erlösung der Menschheit und hatte ihr doch nichts anderes zu bieten als das Ansinnen, sich der geistigen Weltherrschaft der Deutschen zu unterwerfen.
Das revolutionäre Moment bei den deutschen Nationalisten tritt besonders deutlich hervor, wenn man sie mit Vertretern der politischen Romantik wie Novalis, Friedrich Schlegel und Adam Müller vergleicht. Die beiden Richtungen berührten sich in der Verklärung deutschen Wesens und im Schwärmen für Deutschlands glorreiche Vergangenheit, aber die Unterschiede waren beträchtlich. Die politischen Romantiker rühmten die Tugenden des Adels, die Vorzüge einer ständischen Verfassung und fühlten sich dem geistlichen Universalismus des Mittelalters verbunden. Bei Müller und Schlegel ging das so weit, daß sie zur katholischen Kirche übertraten. Die frühen Nationalisten waren kämpferische «Kulturprotestanten» (in einem weiteren Sinn als dem, den dieser Begriff im Deutschland der Wilhelminischen Ära erhielt). Die politischen Romantiker dachten nicht daran, Preußen in einen Gegensatz zu Österreich zu bringen und eine neue Kaiserkrone für die Hohenzollern ins Auge zu fassen. Die frühen Nationalisten hatten keine Bedenken, sich zu solchen Visionen zu bekennen.
Fichte, Jahn und Arndt sprachen für ein Deutschland, das es noch nicht gab. Sie formulierten ein Problem, das vor dem Ende des Alten Reiches noch nicht bestanden hatte oder zumindest nicht als solches empfunden worden war: die deutsche Frage. Sie schloß drei Teilprobleme in sich, die eng miteinander verbunden waren: das Verhältnis von Einheit und Freiheit, die Grenzen eines künftigen Deutschland und den Platz Deutschlands in Europa. Aus Deutschland einen Nationalstaat und gleichzeitig einen Verfassungsstaat zu machen war für die drei Klassiker des deutschen Nationalismus der deutsche Beruf Preußens. Das Bekenntnis zur Führungsrolle Preußens bedeutete noch nicht, daß die frühen deutschen Nationalisten Österreich aus dem deutschen Nationalstaat
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