Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)
Woll- und Baumwollgewerbe, der Maschinenbau und die Branchen, die Ersatz für nicht mehr verfügbare koloniale Produkte bereitstellten: Zucker aus Zuckerrüben statt aus Zuckerrohr etwa oder chemisch erzeugte Farben statt Farbstoffen aus Übersee.
In Frankreich bewirkte die Kontinentalsperre auf der einen Seite einen künstlichen Aufschwung der Baumwollindustrie, auf der anderen Seite den Niedergang aller vom Außenhandel abhängigen Wirtschaftszweige. Die schwere Wirtschaftskrise, in die das Grand Empire in den Jahren 1810 bis 1812 geriet, war zwar nicht nur, aber doch zu erheblichen Teilen eine Folge der Kontinentalsperre. Der umfassende Wirtschaftskrieg fügte also auch dem Land, das ihn 1806 proklamiert hatte, schweren Schaden zu. Dennoch gilt auch für Frankreich, obschon in geringerem Maß als für Deutschland, daß die Kontinentalsperre auf lange Sicht, ungeachtet aller protektionistischen Verzerrungen, den Übergang zur industriellen Produktion nachhaltig gefördert hat.
In England, dem Erzfeind des napoleonischen Frankreich, rief die Kontinentalsperre einen starken Kursrückgang des Pfund Sterling und eine Teuerung hervor, die das soziale Elend ins Unermeßliche steigerte. 1811/12 kam es in vielen Grafschaften zu Hungerunruhen, Brandstiftungen und zur Zerstörung von Fabriken und industriellem Gerät durch Maschinenstürmer, die sogenannten Ludditen, die sich bei den «kleinen Leuten» zeitweilig großer Popularität erfreuten. Das Unterhaus führte daraufhin die Todesstrafe für die Zerstörung von Maschinen ein. Die Hinrichtung von 18 Ludditen in Yorkshire, dem Schauplatz besonders gewalttätiger Proteste, zeitigte die erhoffte Folge: Sie wirkte abschreckend und trug zu einer, wenn auch nur vorübergehenden und prekären, Stabilisierung der inneren Verhältnisse bei. Vom Beginn des Jahres 1813 ab begann sich die britische Wirtschaft zudem zu erholen. «Revolutionär» war die Lage Englands aber auch auf dem Höhepunkt des Luddismus nicht gewesen: Den rebellierenden Handwerkern und Arbeitern, die vorindustriellen, paternalistisch geprägten Vorstellungen von einer «moral economy», einer gerechten Wirtschaftsordnung, anhingen, stand ein anderer Teil der Unterschicht gegenüber, der sich jederzeit für Demonstrationen zugunsten von König und Kirche mobilisieren ließ; eine breite Mittelschicht setzte auf friedlichen Wandel im Zeichen von wachsendem Wohlstand und hoffte auf ein Ende von Krieg und Ausnahmezustand.
Zu Hoffnungen gaben vor allem außenpolitische Entwicklungen Anlaß: England war um 1811/12 längst nicht mehr so isoliert wie zur Zeit des Tilsiter Friedens, als es ohne alle Bundesgenossen unter den größten Staaten Europas dastand. Die Wendung zum Besseren verdankte es Napoleon. Anfang 1808 entschloß sich der Kaiser, die Bourbonen vom Thron in Madrid zu verjagen und Spanien seiner Herrschaft zu unterwerfen. Es war die Entscheidung, die im Rückblick als der Anfang vom Ende des Grand Empire erscheint. Sie barg für England eine einzigartige Chance: die Möglichkeit, sich mit dem spanischen Volk gegen den Usurpator in Paris zu verbünden. Und wenn es südlich der Pyrenäen gelang, eine Erhebung gegen Napoleon zum Erfolg zu führen, durfte man erwarten, daß auch andere europäische Länder sich vom spanischen Beispiel anregen lassen würden.[ 45 ]
Napoleon im Niedergang: Von der spanischen «guerilla» zum Rußlandkrieg
Dem Krieg in Spanien ging der gegen Portugal voraus. Die kleinere der beiden iberischen Monarchien war mit England verbündet und hatte es daher abgelehnt, sich an der Kontinentalsperre zu beteiligen. Gestützt auf Verträge aus den Jahren 1801 und 1805 veranlaßte Napoleon im Oktober 1807 die spanische Regierung, zusammen mit Frankreich Portugal zu besetzen und aufzuteilen. Das Vorhaben gelang, da das portugiesische Militär kaum Widerstand leistete, auf Anhieb.
Um dieselbe Zeit eskalierte ein Konflikt zwischen König Karl IV. von Spanien und Kronprinz Ferdinand. Der Prinz von Asturien, so der offizielle Titel des Kronprinzen, genoß die Unterstützung all derer, die den leitenden Minister Godoy, den Günstling der Königin, aus der Macht vertreiben wollten. Der König warf Ferdinand Hochverrat vor und ließ ihn Ende Oktober 1807 verhaften. Als sich im März 1808 das Gerücht verbreitete, der verhaßte Godoy wolle den Kronprinzen entführen, kam es zu einer Mischung aus verdecktem Militärputsch und örtlichem Volksaufstand in Aranjuez, der Sommerresidenz der spanischen
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