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Geschichte des Westens

Geschichte des Westens

Titel: Geschichte des Westens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich August Winkler
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fundierten Schätzungen 4 bis 5 Millionen Menschenleben forderte. Die Zahl der Opfer wäre noch sehr viel größer gewesen, hätten nicht Fridtjof Nansen, der Völkerbundskommissar für Flüchtlingsfragen und berühmte Polarforscher, der amerikanische Handelsminister Herbert Hoover und, nicht zuletzt, die kommunistischen und die nichtkommunistischen Arbeiterparteien Europas großzügige Hilfsaktionen zugunsten der hungernden Bevölkerung Sowjetrußlands organisiert.
    In einer im April 1921 verfaßten Broschüre wertete Lenin die kurz zuvor eingeführte Naturalsteuer als Übergang vom Kriegskommunismus zum geregelten sozialistischen Produktentausch und die Wiederzulassung des freien Handels als «Kapitalismus», der den Kommunisten helfen werde, die Zersplitterung der Kleinproduzenten und, bis zu einem gewissen Grad, auch den Bürokratismus zu bekämpfen. Er zitierte ausführlich aus seiner 1918 veröffentlichten Schrift «Über die heutige Wirtschaft Rußlands», in der er den Staatskapitalismus einen Schritt vorwärts gegenüber dem derzeitigen Zustand genannt und als Übergangsstadium zwischen dem privatwirtschaftlichen Kapitalismus und dem Sozialismus gewertet hatte. Nach wie vor hielt Lenin Sozialismus ohne großkapitalistische Technik für undenkbar. Der Kriegskommunismus sei durch Krieg und Ruin erzwungen worden, aber keine Politik, die den wirtschaftlichen Aufgaben des Proletariats entsprochenhabe, sondern nur eine zeitweilige Maßnahme. «Die richtige Politik des Proletariats, das seine Diktatur in einem kleinbäuerlichen Lande ausübt, ist der Austausch von Getreide gegen Industrieerzeugnisse, die der Bauer braucht. Nur eine solche Politik der Lebensmittelbeschaffung entspricht den wirtschaftlichen Aufgaben des Proletariats, nur sie ist geeignet, die Grundlagen des Sozialismus zu festigen und zu seinem vollen Siege zu führen.»
    Der bolschewistische Massenterror, das herausragende Merkmal des Kriegskommunismus, wies viele Ähnlichkeiten mit der jakobinischen «terreur» auf, die Lenin, darin ein gelehriger Schüler von Karl Marx, als historisches Vorbild betrachtete. 1793/94 wie 1918 bis 1920 wirkte die Verbindung von innerer Konterrevolution und Intervention von außen radikalisierend: Sie forderte die entschiedensten Revolutionäre zu einem Kampf heraus, bei dem es um Sein oder Nichtsein der neuen Ordnung ging. In beiden Fällen steigerte sich die terroristische Dynamik bis zu dem Punkt, wo sie in Selbstzerstörung umzuschlagen drohte. Auf den jakobinischen Terror folgte der Thermidor, eine neue Vorherrschaft der Gemäßigten. Die Neue Ökonomische Politik war
nicht
der Thermidor der bolschewistischen Revolution. Die bisherigen revolutionären Machthaber blieben am Ruder; sie korrigierten selbst ihre Politik und verabschiedeten sich nicht vom Terror. Sie schränkten ihn nur auf das Maß ein, das ihnen nach Lage der Dinge erforderlich erschien, und legalisierten das, was vordem außergesetzlich geschehen war, um «Klassenfeinde» auszuschalten. Der Terror war mithin kein Durchgangsstadium der Revolution der Bolschewiki, sondern blieb auch nach dem Ende der unmittelbaren inneren und äußeren Bedrohung ihr Herrschaftsmittel – jederzeit reaktivierbar, wenn das jeweilige Machtzentrum es für erforderlich hielt.
    Das Machtzentrum der Kommunistischen Partei Rußlands (Bolschewiki) war das Politbüro. Es wurde vom Zentralkomitee gewählt, das seinerseits vom Parteitag eingesetzt wurde. Innerhalb des Politbüros waren neben Lenin die maßgebenden Mitglieder zunächst die Führer der Parteiorganisationen von Petrograd und Moskau, Sinowjew und Kamenew, sowie Stalin, der im April 1922 vom Zentralkomitee zum Generalsekretär ernannt wurde. Trotzki verfügte über keinen festen organisatorischen Rückhalt in der Partei, der ökonomisch und theoretisch versierte Bucharin gewann ihn allmählich. Lenin erlitt im Mai 1922 einen ersten, im Dezember des Jahres einenzweiten Schlaganfall; nach seinem dritten Schlaganfall im März 1923 schied er aus dem politischen Leben Rußlands faktisch aus.
    Die KPR wuchs 1920 durch den Übertritt konkurrierender Gruppen wie großer Teile der «maximalistischen» Sozialrevolutionäre, des Allgemeinen Jüdischen Arbeiterbundes und der Revolutionären Kommunisten. Die aktivsten Funktionäre der Menschewiki wurden wegen ihrer Beteiligung an den Arbeiterprotesten von 1921 verhaftet, ihre Partei ebenso wie die der Sozialrevolutionäre verboten. Im Juli 1922 fand ein Schauprozeß gegen

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