Geschichte des Westens
ratifiziert. Sie enthielt keinen Artikel, der die Menschen- und Bürgerrechte definierte und garantierte, und keine (als «bürgerlich» charakterisierte) Gewaltenteilung: Gegen Entscheidungen des Obersten Gerichtshofes konnte Protest beim Zentralen Exekutivkomitee der Sowjets eingelegt werden. Dieser ging aus dem Allunions-Sowjetkongreß hervor und bestand aus zwei Kammern, dem Unions- und dem Nationalitätensowjet.
Außenpolitik und Außenhandel waren Sache der Zentralgewalt, ebenso das Militär- und Verkehrswesen, Post und Telegraphie. In den Bereichen Staatskontrolle von Wirtschaft und Finanzen, Versorgung und Arbeit waren die Zuständigkeiten der Zentralgewalt gegenüber den Unionsrepubliken so umfassend, daß es an der politischen Gewichtsverteilung nichts zu deuteln gab: Die Sowjetunion war in der Form ein föderalistisches, in der Sache ein zentralistisches Staatswesen. Ihr Territorium ähnelte, wenn man von den Gebietsverlusten im Westen absah, stark dem Zarenreich. Wie dieses war sie ein Nationalitätenstaat. Ob sie den Belangen der nichtrussischen Nationalitäten besser gerecht werden würde als die Monarchie, war eine Frage, die nur die Verfassungswirklichkeit beantworten konnte.
In den ersten Jahren der Sowjetunion galten in der Nationalitätenpolitik die Grundsätze der «Einwurzelung» (korenizacija) und des «nationalen Aufbaus»: Die nichtrussischen Ethnien sollten durch betonte Rücksichtnahme auf ihre kulturellen Besonderheiten für das neue revolutionäre Staatswesen und damit für die Sache des Kommunismus gewonnen werden. In den islamischen Unionsrepubliken wurden die arabischen nicht durch kyrillische, sondern lateinische Schriftzeichen ersetzt und regionale Verwaltungspositionen und Parteiämter, wenn auch nicht die höchsten, einheimischen Kräften übertragen.
In der Ukraine führte die neue Nationalitätenpolitik zu einer Wiederbelebung der ukrainischen Sprache in Gebieten sprachlicher, das heißt teils russischer teils ukrainischer, Gemengelage. Die Juden, von denen sich viele schon auf Grund der Unterdrückung durch das Zarenreich den Bolschewiki angeschlossen hatten und viele ihrer leitenden Funktionäre, unter anderen Sinowjew, Kamenew und Trotzki, stellten, behielten ein Recht, das ihnen schon nach der Februarrevolution von1917 zugestanden worden war: Sie durften sich auch außerhalb der «Ansiedlungsrayons» in 13 westlichen Gouvernements des Zarenreiches im ganzen Staatsgebiet der Sowjetunion niederlassen. Die Nationalitätenpolitik der Jahre 1922 bis etwa 1926 richtete sich in der Theorie am Prinzip der kulturellen Selbstbestimmung aus. In der Praxis stieß sie sich schon damals an den großrussischen Traditionen des Parteiapparates, die in der Folgezeit immer stärker wurden.
Was «liberal» wirkte an der Nationalitätenpolitik der frühen Sowjetunion, paßte zum relativen Pluralismus der vorstalinistischen Jahre. Am wenigsten verdiente die Kirchenpolitik das Etikett «liberal». Das Verhältnis zur orthodoxen Kirche war seit jeher belastet durch ihre reaktionäre Tradition und den militanten Atheismus der Bolschewiki. In der Revolution war der kirchliche Grundbesitz enteignet und eine radikale Trennung von Staat und Kirche verfügt worden. Die heftigen Angriffe des Patriarchen, des Metropoliten von Moskau, Tichon, auf den gottlosen Bolschewismus konterte das revolutionäre Regime mit Kirchenschließungen und der gerichtlichen Verfolgung von Popen. Während des Bürgerkrieges wurden Tausende von orthodoxen Christen und mindestens 28 Bischöfe ermordet. Die Gesamtzahl der 1922/23 getöteten orthodoxen Geistlichen belief sich auf über 8000.
1922 entbrannte ein scharfer Machtkampf zwischen regimeloyalen innerkirchlichen «Reformern» und dem Patriarchen, der fast den gesamten Klerus hinter sich wußte. Als ein von den «Reformern» beherrschtes «Konzil» im April 1923 die Abschaffung des Patriarchats beschloß, lenkte Tichon ein. Er veröffentlichte in der Regierungszeitung «Iswestija» eine Loyalitätserklärung, die dazu führte, daß sein im Mai 1922 verhängter Hausarrest im Juni 1923 aufgehoben wurde. Damit begann eine Phase der staatlichen Duldung der Orthodoxie. Nach Tichons Tod im April 1925 kam es zu neuen Machtkämpfen zwischen Staat und Kirche, die 1927 damit endeten, daß der Patriarchatsverweser, der Metropolit von Nowgorod, Sergej (Stragorodski), ein neues, umfassendes Loyalitätsbekenntnis zum Sowjetstaat ablegte.
Nicht nur für gläubige Christen, sondern
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