Geschichte des Westens
selbst für viele Bolschewiki zu «radikal» waren die Positionen, die die Vorkämpferin der Frauenemanzipation, Alexandra Kollontai, in bezug auf Ehe und Familie einnahm. Sie verfocht das Recht auf freie Liebe, die auch in den von ihr propagierten Kommunehäusern praktiziert werden sollte. AlsVolkskommissarin für Sozialfürsorge in dem knappen halben Jahr zwischen November 1917 und dem März 1918 war sie die erste Ministerin der Welt. In dieser Funktion und als Leiterin der Frauenabteilung des Zentralkomitees lockerte sie das Ehe- und Familienrecht, verbesserte den Mutterschutz und erkämpfte das Recht auf Schwangerschaftsabbruch. Die von ihr geforderte kollektive Kindererziehung hingegen konnte sie nicht durchsetzen und, was ihre Ansichten über Ehe und Familie betraf, so wurden diese von Lenin und den anderen maßgeblichen Bolschewiki nicht geteilt. Kollontais politischer Einfluß ging zurück, als sie sich der linken «Arbeiteropposition» anschloß und mehr innerparteiliche Demokratie forderte. Ihr vom ZK betriebener Parteiausschluß scheiterte im März 1922 am Widerstand der Delegierten des 11. Parteitages. 1923 wurde Alexandra Kollontai Gesandte der Sowjetunion in Norwegen, was zur ersten Station einer langen, diplomatischen Karriere wurde. Die von ihr geprägten liberalen Ehe- und Familiengesetze von 1918 wurden 1926 bestätigt.
Vergleichsweise «liberal» war auch die frühe sowjetische Kulturpolitik, die in den Jahren von 1917 bis 1929 den Stempel des Volkskommissars für Volksbildung, Anatoli W. Lunatscharski, trug. Lenin hatte ihm die Beseitigung des Analphabetismus als Hauptaufgabe gestellt. Obwohl Lunatscharski schon mangels geeigneter Lehrkräfte noch nicht die allgemeine Schulpflicht einführen konnte (den entsprechenden Beschluß faßte das Zentralkomitee erst im Juli 1930), gelang es ihm, den Anteil der Analphabeten von etwa 60 bis 70 Prozent bis 1926 auf 49 Prozent der Bevölkerung über neun Jahre zu drücken. Eine maßgebliche Rolle spielten dabei die Arbeiterfakultäten («Rabfak»), die an Hochschulen, aber auch in Fabriken eingerichtet wurden, um ihren Absolventen innerhalb von drei Jahren neben Lesen und Schreiben die elementaren Grundlagen der Allgemeinbildung beizubringen.
Dazu kam die Ausweitung des Schulwesens. Selbst in den Bürgerkriegsjahren 1918 bis 1921 wurden 8500 neue Schulen errichtet. Im Zeichen der NEP gab Lunatscharski der Vermittlung von Grundwissen den Vorrang vor der ideologischen Schulung, die aber zu keiner Zeit vernachlässigt wurde: Die Lehrer galten als die wichtigsten Vermittler des Sozialismus auf den Dörfern. Der Volksbildungskommissar konnte freilich nicht verhindern, daß im Gefolge der Wirtschaftsmisere zwischen 1921 und 1923 die Zahl der vierklassigen Grundschulen von 76.000 auf 50.000 und die der Schüler von 6,1 auf 3,6 Millionensank. Erst 1926 wurde das Vorkriegsniveau wieder erreicht. Im Jahr darauf lag die Zahl der Schüler um 3 Millionen über dem Stand von 1914.
Der Kampf gegen den Analphabetismus bildete nur einen Teil der Aktivitäten des Volksbildungskommissars Lunatscharski. Im Oktober 1920 wurde ihm auf Beschluß des Politbüros auch die bislang eigenständige Arbeiterkulturbewegung «Proletkult» unterstellt, die der Philosoph und Mediziner A. A. Bogdanow, unterstützt von Lunatscharski, in den Vorkriegsjahren ins Leben gerufen hatte. Bogdanow wollte die Arbeiter in eigenen Klubs, Bibliotheken und Theatern sowohl an die «bürgerliche» Kultur heranführen als auch zu Trägern einer neuen, proletarischen Kultur machen. In der Zeit des Bürgerkrieges verstärkte sich innerhalb der Bewegung die antibürgerliche Neigung zum radikalen Bruch mit der Tradition. Der «Proletkult» beerbte vielerlei avantgardistische Richtungen vom Expressionismus über den Kubismus bis zum Futurismus. Er brachte eine bedeutende Plakatkunst und ein anspruchsvolles politisches Agitationstheater hervor und beeinflußte das Schaffen von Schriftstellern und Filmregisseuren, von den letzteren vor allem das Sergej Eisensteins, dessen «Panzerkreuzer Potemkin» von 1925 viel dazu beitrug, die Oktoberrevolution in aller Welt in den Rang eines Mythos zu erheben.
«Proletkult» brauchte, um innovativ zu sein, künstlerische Autonomie. Lunatscharski war bereit, der Bewegung auch nach der Auflösung ihrer eigenständigen Organisation ein beträchtliches Maß an Freiheit zuzugestehen, konnte sich aber auf die Dauer nicht gegen Lenin und das Politbüro durchsetzen. Als
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