Geschichte des Westens
daß auch die Bäume der Protektionisten nicht in den Himmel wuchsen. Amerika sollte nach dem Ersten Weltkrieg auf dem «alten Kontinent» in viel höherem Maß präsent bleiben, als dies die Gegner Wilsons 1919/20 erwartet hatten.[ 10 ]
Die Weltrevolution verzögert sich:
Die Entstehung der Sowjetunion und die Spaltung der europäischen Linken
Das Land, das die meisten Amerikaner wohl als das gefährlichste der Welt eingestuft haben würden, konnte sich erst im Spätjahr 1919 einigermaßen sicher sein, daß es sich im Kampf gegen seine inneren Gegner würde behaupten können: Sowjetrußland oder, wie der offizielle Staatsname seit dem Juli 1918 lautete, die Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik, abgekürzt RSFSR. Seit dem Oktober war die Rote Armee an allen Fronten auf dem Vormarsch. Admiral Koltschak, der zeitweilig gefährlichste unter den Führern der «Weißen», mußte nach Irkutsk zurückweichen, wo er von bürgerkriegsmüden Angehörigen der Tschechoslowakischen Legion den Parteigängern der Bolschewiki übergeben wurde, die ihn am 7. Februar 1920 erschossen. Im April stellte General Denikin nach mehreren schweren Niederlagen sein Amt als Oberbefehlshaber der «Weißen» in Südrußland zur Verfügung. Sein Nachfolger Wrangell scheiterte im Herbst mit einer von der Krim aus unternommenen, von den Briten unterstützten Offensive. Mit der Evakuierung seiner restlichen Truppen im November 1920 auf alliierten Schiffen war der russische Bürgerkrieg beendet, und mit ihm die halbherzige Intervention der Verbündeten, die sich 1918 auf die Seite der «Weißen» gestellt hatten.
Die Niederlage der uneinigen «Weißen» hatte ihren Hauptgrund im Unvermögen der Konterrevolutionäre, eine breite Anhängerschaft für sich zu gewinnen. Das industrielle Proletariat hatten sie fast geschlossen gegen sich; den kleinen Bauern waren sie verhaßt, weil sie als Anhänger der früheren Ordnung galten, die die Umverteilung von Grund und Boden rückgängig machen wollten; als großrussische Chauvinisten konnten sie auch keine zuverlässigen Verbündeten des ukrainischen Nationalismus sein. Was den «Weißen» schadete, nützte den «Roten»: Ihren stärksten Rückhalt hatten diese bei den Arbeitern; den meisten Bauern erschienen sie, ungeachtet aller Klagen über die laufende Beschlagnahmung von Getreide und Nahrungsmitteln, schon deswegen, verglichen mit den «Weißen», als das kleinere Übel, weil sie den Großgrundbesitz zerschlagen hatten; die nichtrussischen Nationalitäten erwarteten von den Bolschewiki mehr Rücksicht auf ihre Interessenals von den «Weißen», die durchweg Befürworter eines starken Zentralstaates waren.
1920 endete nicht nur der russische Bürgerkrieg. Dasselbe Jahr brachte auch die Anerkennung der Selbständigkeit Estlands, Litauens und Lettlands durch Sowjetrußland, im Oktober dann den Waffenstillstand im russisch-polnischen Krieg und den Frieden mit Finnland. Im März 1921 folgte, wovon schon die Rede war, der Friede von Riga mit Polen. Die von Moskau anerkannte Westgrenze der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik beziehungsweise der völlig von ihr abhängigen weißrussischen und ukrainischen Sowjetrepubliken verlief fortan weit östlich von der des Zarenreiches, schloß aber den größten Teil der Ukraine ein, darunter die Gebiete rechts des Dnjepr mitsamt Kiew, die bereits in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts (im russisch-polnischen Waffenstillstand von Andrusowo vom Januar 1667) an Rußland gekommen und überwiegend russisch geprägt waren.
Im Kaukasus gelang es den Bolschewiki hingegen, das sowjetrussische Territorium erheblich zu vergrößern. In Aserbaidschan und Armenien wurden 1920, nachdem die britischen Interventionstruppen sich zurückgezogen hatten, Sowjetregime eingesetzt. Georgien, wo sich 1918 ein unabhängiger, von den Menschewiki regierter, im Mai 1920 von Moskau offiziell anerkannter Staat konstituiert hatte, wurde im Februar 1921 von der Roten Armee besetzt und trotz scharfer internationaler Proteste, vor allem von seiten der nichtkommunistischen Linken, in eine Georgische Sozialistische Sowjetrepublik verwandelt; sie ging im Jahr darauf in der Transkaukasischen Föderation auf, die sich im Dezember 1922 an der Gründung der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken beteiligte. Eine direkte Gebietserweiterung nahm die RSFSR im November 1922 im Fernen Osten vor, als sie sich kurz nach dem Abzug der Japaner zwei in der
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