Geschichte des Westens
scharfen Angriffen auf die «Reformisten» aller Schattierungen einherging und den Hauptzweck verfolgte, die Masse der Arbeiter von den Parteien der beiden anderen Internationalen zu den kommunistischen Parteien herüberzuziehen. Die Wiener Internationale lud daraufhin Mitte Januar 1922 die Exekutiven der Moskauer und der Londoner Internationale zu einer allgemeinen Konferenz ein, auf der allerdings nicht die ideologischen Gegensätze zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten, sondern erstens die ökonomische Lage Europas und die Aktion der Arbeiterklasse und zweitens der Abwehrkampf des Proletariats gegen die Reaktion diskutiert werden sollten.
Die von der Wiener Internationale angeregte Konferenz kam tatsächlich zustande: Sie fand Anfang April 1922 im Berliner Reichstagsgebäude statt. Die Dritte Internationale nahm teil, weil sie sich davon Erfolge für ihre Einheitsfronttaktik versprach, die Zweite, weil sie nicht als Saboteur des Einigungsstrebens dastehen wollte. Bei der Annahme der Einladung machte die letztere aber auch ihre Vorbehalte deutlich: Auf der Konferenz sollte auch über das Schicksal der politischen Gefangenen in Sowjetrußland und über das Schicksal Georgiens gesprochen werden, wo die Bolschewiki ein Jahr zuvor durch ihre militärische Intervention die Regierung der Menschewiki gestürzt und ein kommunistisches System an die Macht gebracht hatten. Außerdem sollten die Kommunisten zusichern, daß sie künftig keine Zellenbildung in den Gewerkschaften mehr betreiben würden.
Tatsächlich wurde die Berliner Konferenz, trotz aller Vermittlungsversuche der österreichischen Sozialisten Friedrich Adler und Otto Bauer, zu einem Schlagabtausch zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten. Karl Radek, der Hauptsprecher der Dritten Internationale, war aber, weil er sein Hauptziel, einen großen Weltarbeiterkongreß als Plattform internationaler kommunistischer Propaganda, nicht gefährden wollte, schließlich zu Zugeständnissen an die Reformisten bereit. In der georgischen Frage stimmte er einer Untersuchungskommission zu, die von den Exekutiven der drei Internationalen eingesetzt werden sollte. Was die 47 Sozialrevolutionäre betraf, die zu diesem Zeitpunkt in sowjetischen Gefängnissen auf Prozeß und Todesurteil warteten, so durften die beiden anderen Internationalen Verteidiger nach Moskau schicken; Todesurteile sollten nicht verhängt werden. Daraufhin beschloß die Konferenz die Bildung einer Neunerkommission, deren Hauptaufgabe es war, eine «allgemeine Konferenz» vorzubereiten. An die Arbeiter aller Länder erging die Aufforderung, gemeinsame Demonstrationen zu veranstalten für den Achtstundentag und gegen die «kapitalistische Offensive», für die «russische Revolution, für das hungernde Rußland, für die Aufnahme der politischen und wirtschaftlichen Beziehungen aller Staaten mit Sowjetrußland» und für die «Herstellung der proletarischen Einheitsfront in jedem Land und in der Internationale».
Zurück in Moskau, wurden die Delegierten der Komintern jedoch sogleich von Lenin streng gerügt. Sie hätten den «geschickten Vertretern der bürgerlichen Diplomatie» und den «Bevollmächtigten der II. undder zweieinhalbten Internationale» Konzessionen gemacht, ohne selber Konzessionen zu erhalten, schrieb er am 11. April in der «Prawda». Mit der Zusage, daß Vertreter aller drei Internationalen zum Prozeß gegen die Sozialrevolutionäre zugelassen und daß keine Todesstrafen verhängt werden sollten, hatte die Delegation der Komintern nach Lenins Meinung einen zu hohen Preis gezahlt. Die Ratifizierung der Berliner Übereinkunft durch das EKKI war daher von zweifelhaftem Wert.
Die erste Sitzung der Neunerkommission fand am 23. Mai 1922 unter Vorsitz Friedrich Adlers in Berlin statt. Es war zugleich die letzte Sitzung. Radek forderte ultimativ die unverzügliche Einberufung eines Weltarbeiterkongresses; die Vertreter der beiden anderen Internationalen lehnten dies ab, da die Komintern ihre Zusagen nicht erfüllt habe. Die Moskauer Delegierten erklärten daraufhin ihre Mandate für erledigt. Tags darauf beschuldigte die Komintern die Londoner und die Wiener Internationale, sie hätten die Neunerkommission bewußt gesprengt. Die neue Parole an die Arbeiter aller Länder lautete: «Bildet die Einheitsfront von unten auf» – gegebenenfalls also gegen die Führungen der «reformistischen» Parteien und Gewerkschaften.
Das Interesse der Komintern an einem Weltarbeiterkongreß war
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