Geschichte des Westens
machte Großbritannien aus Moskauer Sicht zur Vormacht der kapitalistischen Welt.
Auf der Insel selbst stellten sich 1918 bald Zweifel ein, ob der Weltkrieg die Weltstellung Großbritanniens nicht doch nachhaltig erschüttert hatte. England hatte zwar den größten Teil des afrikanischen Kolonialbesitzes des Deutschen Reiches übernommen, aber die Radikalisierung des indischen und des arabischen Nationalismus war auch eine Kriegsfolge, und zwar eine, die dem Bestand des Empire sehr gefährlich zu werden drohte. 1,3 Millionen indische Soldaten waren während des Krieges an allen Fronten eingesetzt worden; daß die Überlebenden sich dauerhaft mit dem kolonialen Status ihrer Heimat abfinden würden, war in höchstem Maß unwahrscheinlich.
Anders als die Kolonien hatten die weißen Dominions aus freien Stücken Soldaten zur Unterstützung des Mutterlandes entsandt: Kanada eine halbe Million, von denen 57.000 fielen, Australien 332.000 und Neuseeland 112.000; bei den beiden letzteren Dominions lagen die Zahlen der Gefallenen bei 59.000 beziehungsweise 17.000. Auf die Kriegführung hatten die Dominions seit 1917 durch ihre Vertreter im neugeschaffenen Imperial War Cabinet Einfluß nehmen können, dem außer ihnen drei Vertreter Indiens, ein Vertreter Neufundlands, die fünf Mitglieder des britischen Kriegskabinetts sowie der Kolonialminister und der Staatssekretär für Indien angehörten.
Vier Jahre nach Kriegsende mußte Großbritannien zur Kenntnis nehmen, daß es künftig nicht mehr ohne weiteres mit einer derartigenOpferbereitschaft rechnen durfte. Als sich im türkisch-griechischen Krieg Anfang September 1922 türkische Truppen Tschanak in der neutralen Dardanellenzone näherten, drohte eine Zeit lang eine militärische Eskalation, ja ein Krieg zwischen der Türkei und Großbritannien. (Frankreich und Italien hatten während der Tschanakkrise ihre Truppenverbände bereits aus der neutralen Zone abgezogen.) In London drängte vor allem Kolonialminister Winston Churchill auf ein hartes Vorgehen gegenüber den Türken, und er wußte dabei Premierminister Lloyd George auf seiner Seite. Der kanadische Premierminister William Lyon Mackenzie King, der Regierungschef der Jahre 1921 bis 1930 und 1935 bis 1948, aber erklärte sogleich, daß das Dominion, dessen Regierung er führte, im Fall einer britischen Kriegserklärung sich, anders als 1914, nicht mehr automatisch als im Kriegszustand befindlich betrachten werde. Ähnlich äußerte sich der südafrikanische Premierminister Smuts. Diese Warnungen trugen erheblich zur Schwächung der Londoner «Kriegspartei» und zur friedlichen Lösung des britisch-türkischen Konflikts bei.
Kanada tat im Jahr nach der Tschanakkrise einen weiteren Schritt in Richtung Emanzipation vom Mutterland. Es schloß im März 1923 ein Fischereiabkommen mit den USA, ohne die britische Botschaft in Washington einzuschalten. Die Imperial Conference, die wenig später in London tagte, bestätigte das Recht der Dominions, Verträge mit dritten Staaten zu schließen. Für die weißen Dominions war der Weg damit frei zur Errichtung von Vertretungen in allen Ländern, mit denen sie diplomatische Beziehungen aufnehmen wollten – ein Recht, auf das Australien und Neuseeland, im Unterschied zu Kanada, vorerst noch keinen Wert legten. Großbritannien schuf seinerseits ein neues Amt, das Dominions Office, das gleichberechtigt neben das Colonial Office trat, auch wenn beide Ämter zunächst noch an der Spitze in Personalunion verbunden waren.
Innenpolitisch stand Großbritannien in der frühen Nachkriegszeit im Zeichen erbitterter Arbeitskämpfe und sozialer Unruhen. Ende Januar 1919 traten 70.000 Werft-, Dock- und Bergarbeiter im schottischen Industriegebiet am Clyde und im nordirischen Belfast mit dem Ruf nach der 40-Stunden-Woche in einen wilden Streik. Am Rathaus von Glasgow zogen Arbeiter im Verlauf heftiger Unruhen eine rote Fahne auf, woraufhin die Regierung den Belagerungszustand verhängte und eine 10.000 Mann starke, schwer bewaffnete Truppe mitsamtPanzern in die schottische Industriemetropole schickte. Da auch Hunderttausende von Bergarbeitern und Eisenbahnern im übrigen Land mit Streik drohten, die Bergarbeitergewerkschaft zudem die Vergesellschaftung («nationalization») der Kohlegruben forderte, schien ein landesweiter Generalstreik nicht mehr fern.
Das Militär stellte die Ordnung in Glasgow und anderen Orten rasch wieder her, für die Eindämmung der sozialen Unruhen reichte aber die
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