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Geschichte des Westens

Geschichte des Westens

Titel: Geschichte des Westens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich August Winkler
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verhindern. Im Frühjahr 1919 traten nach den Grubenarbeitern die Arbeiter der Metallindustrie und der öffentlichen Verkehrsbetriebe der Hauptstadt in den Ausstand; nennenswerte praktische Ergebnisse hatten diese Arbeitskämpfe aber nicht.
    Daß im Verlauf einiger dieser Streiks, namentlich in Paris, revolutionäre Parolen zu hören waren, steigerte die Angst des Bürgertums vor einer Ausbreitung des Bolschewismus. Ministerpräsident Clemenceau ließ sich, was Angriffe auf den Kommunismus betraf, von keinem anderen Politiker an Schärfe übertreffen. Rechtzeitig vor den Kammerwahlen vom 19. November 1919 schlossen sich die meisten Parteien, die die Regierung unterstützten, in einem Wahlbündnis, dem Bloc national, zusammen. Er konnte 437 von 616 Sitzen erobern. Das lag auch an einer Wahlrechtsreform, die gemeinsamen Kandidatenlisten, wenn sie in einem der acht bevölkerungsreichsten Departements die absolute Mehrheit der Stimmen erreichten, alle der dort zu vergebenden Mandate sicherte. Das Nachsehen hatten die übrigen Parteien. Die oppositionelle Linke erreichte 180 Sitze, von denen auf die bürgerlichen Radikalsozialisten, kurz «Radicaux» genannt, 88, die Sozialisten der SFIO 68 Sitze entfielen. Die rechte Mitte kam auf 130, die linke Mitte auf 100 Mandate. Die Wähler der Abgeordneten waren wie bisher nur die Franzosen männlichen Geschlechts: Das Frauenwahlrecht, das die Kammer bereits beschlossen hatte, war vom Senat verworfen worden.
    Wenig später, im Januar 1920, stand die Wahl des Präsidenten derRepublik an. Clemenceau, der Wahlsieger vom November, strebte die Nachfolge des Amtsinhabers Poincaré an, mußte aber zu seiner Überraschung erleben, daß viele der Abgeordneten, die ihn bisher unterstützt hatten, ganz andere Absichten verfolgten: Sie wünschten kein starkes, sondern ein lenkbares Staatsoberhaupt und entschieden sich darum für den politisch farblosen Kammerpräsidenten Paul Deschanel. Clemenceau trat daraufhin sofort als Ministerpräsident zurück und zog sich verbittert in die Provinz zurück. Seine Nachfolge übernahm Alexandre Millerand, ein ehemaliger Sozialist, der inzwischen dem rechten Spektrum zuzurechnen war. Als Deschanel wenige Monate nach seiner Wahl schwer erkrankte und im November 1920 zurücktreten mußte, wurde Millerand zu seinem Nachfolger gewählt. Neuer Ministerpräsident wurde nach einem kurzen Zwischenspiel im Januar 1921 Aristide Briand, auch er ein nach rechts gewanderter ehemaliger Sozialist.
    In die Zeit, in der Millerand an der Spitze der Regierung stand, fielen neue große Arbeitskämpfe. Im Februar 1920 verlangten die Eisenbahner neben höheren Löhnen die Verstaatlichung der Eisenbahnen. Für den 1. Mai wurde der unbefristete Generalstreik beschlossen, an dem sich, nachdem die Dachorganisation der sozialistischen Gewerkschaften, die CGT, sich zur Unterstützung des Aufrufs durchgerungen hatte, auch Arbeiter aus anderen öffentlichen Betrieben sowie die Gewerkschaften der Bergleute, der Metall- und der Bauarbeiter, aber längst nicht alle Arbeiter und auch nicht alle Eisenbahner beteiligten. Millerand warf der CGT vor, sie bereite einen revolutionären Umsturz vor; Studenten und Gymnasiasten stellten sich als Streikbrecher zur Verfügung; die Eisenbahngesellschaften blieben unnachgiebig.
    Ende Mai sah sich die CGT genötigt, zum Abbruch der Aktionen aufzurufen. Von den entlassenen Eisenbahnern wurden viele nicht mehr eingestellt. Eine vom Gerichtshof des Departements Seine im Januar 1921 verfügte Auflösung der CGT wurde nicht vollstreckt, an ihrer politischen Niederlage aber gab es nichts zu deuteln. Die Erfahrungen von 1920 trugen erheblich zu jener Spaltung erst der SFIO, dann auch der CGT bei, vor der bereits im Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkongreß der Dritten Internationale die Rede war. Den größten Nutzen aus der Unzufriedenheit und Verbitterung im französischen Proletariat zogen die Kommunisten. Nutznießer der Spaltung der Arbeiterbewegung aber waren andere: vorneweg die Unternehmerverbände,die sich 1919 unter die Ägide von Handelsminister Étienne Clémentel zu einem einzigen Dachverband, der Confédération générale de la production française (CGPF), zusammengeschlossen hatten.
    Frankreichs nichtkommunistische Linke stand deutlich links von der deutschen Sozialdemokratie. Auf ihrem ersten Nachkriegsparteitag im April 1919 in Paris bekannte sich die SFIO zum proletarischen Klassenkampf, der eine «unnachgiebige Opposition gegen

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