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Geschichte des Westens

Geschichte des Westens

Titel: Geschichte des Westens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich August Winkler
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die bürgerliche Macht» verlange, und verurteilte «jedwede Teilnahme an der Ausübung der Macht» (condamne toute participation à l’exercice de ce pouvoir). Damit zogen die Sozialisten einen Schlußstrich unter die «Union sacrée» der Kriegsjahre und kehrten zurück zur «Resolution Kautsky», auf die sich die Zweite Internationale auf ihrem Pariser Kongreß vom September 1900 verständigt hatte: Demnach war die Teilnahme von Sozialisten an einer bürgerlichen Regierung ein «gefährliches Experiment», das nur dann statthaft war, wenn es sich um «einen vorübergehenden Notbehelf und eine Zwangslage» handelte.
    Der maßgebliche Sprecher der SFIO war seit der Spaltung der Partei in Sozialisten und Kommunisten auf dem Parteitag von Tours im Dezember 1920 der damals achtundvierzigjährige Léon Blum, der aus einer Familie des bürgerlichen Pariser Judentums entstammte und sich einen Namen als Literatur- und Theaterkritiker gemacht hatte. Er bemühte sich, den Gegensatz zu den Kommunisten nicht als unüberbrückbar, sondern als einen «Familienzwist» (une querelle de famille) erscheinen zu lassen. Blum hielt fest am Ziel der «Diktatur des Proletariats», die er zwar als eine Klassen- und Parteidiktatur, nicht aber, wie die Kommunisten, als eine Diktatur einiger weniger Parteiführer verstanden wissen wollte. Die einzige Form der Machtausübung, die die Sozialisten in der Zeit bis zur Eroberung der Macht durch die Arbeiterklasse für legitim erklärten, war die der Duldung (tolérance) eines bürgerlichen Linkskabinetts, wie sie erstmals nach den Wahlen vom Mai 1924 in Form des «Cartel des gauches» praktiziert wurde.
    Der Unterschied zur deutschen Sozialdemokratie war markant: Hätte die SPD sich nach 1918 auf ihre Vorkriegsposition zurückgezogen und einer Koalition mit gemäßigten bürgerlichen Parteien verweigert, wäre es zur Errichtung der Weimarer Republik gar nicht erst gekommen. In Frankreich verließen sich die Sozialisten darauf, daß die Kräfte des republikanischen Bürgertums links der Mitte stark genugwaren, um mit parlamentarischer Duldung der SFIO regieren zu können, wenn es die Wahlergebnisse denn erlaubten.
    Zwischen den gespaltenen Linken und der Rechten war fast alles strittig, was auf der Tagesordnung der französischen Politik nach 1918 stand. Nicht einmal hinsichtlich der Behandlung der nach Frankreich zurückgekehrten Provinzen Elsaß und Lothringen gab es einen umfassenden nationalen Konsens: Die Kommunisten setzten sich für eine weitreichende Autonomie dieses Gebiets ein, waren damit jedoch völlig isoliert. Die Vertreibung von rund 200.000 «Altdeutschen», die sich erst nach der Annexion von 1871 in Elsaß und Lothringen niedergelassen hatten, darunter die Professoren der «Reichsuniversität» Straßburg und alle höheren Beamten, erfolgte 1918/19, ohne daß es darüber zu größeren Debatten in Frankreich gekommen wäre. (Auf Grund massiven amerikanischen Drängens erhielt rund die Hälfte der Ausgewiesenen später die Möglichkeit, an ihre bisherigen Wohnsitze zurückzukehren.)
    Wenig kontrovers war auch die forcierte sprachliche und kulturelle Reassimilierung der Elsässer und deutschsprachigen Lothringer, die fortan als vornehmste Aufgabe von Schulen und Hochschulen betrachtet wurde. Für entschiedene Laizisten war es hingegen ein Ärgernis, daß die Trennung von Staat und Kirche, die durch das Gesetz vom 5. Dezember 1905 kodifizierte Errungenschaft des französischen Kulturkampfes, um die Gefühle der überwiegend katholischen Bevölkerung zu schonen, in Elsaß-Lothringen nicht eingeführt wurde: Ihre Gehälter erhielten die katholischen und protestantischen Geistlichen nunmehr vom laizistischen französischen Staat. Elsaß-Lothringen war damit der einzige Teil Frankreichs, in dem das unter Napoleon Bonaparte 1801 abgeschlossene Konkordat fortbestand.
    Das regionale Arrangement mit der katholischen Kirche fügte sich gut in die allgemeine Kirchenpolitik der Regierungen des Bloc national. Briand bereitete, um der konservativen Rechten ein positives Signal zu geben, seit Beginn seiner Regierungszeit im Januar 1921 die Wiederaufnahme der 1904 abgebrochenen Beziehungen mit dem Vatikan vor, die dann im Mai 1921 vom Senat gebilligt wurde. Papst Pius XI., der im Februar 1922 zum Oberhaupt der katholischen Kirche gewählt wurde, zeigte sich seinerseits bereit, die Trennung von Staat und Kirche, außer in Elsaß-Lothringen, anzuerkennen, und erreichte damit die

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