Geschichte des Westens
rechts vom bisherigen. Das britische Garantieangebot knüpfte Poincaré an Bedingungen, die einer Ablehnung gleichkamen: Er verlangte ein Bündnis auf Gegenseitigkeit, das auch die Grenzen der ostmittel- und südosteuropäischen Staaten garantierte und auch für den Fall gelten sollte, daß Deutschland in die entmilitarisierte Zone des Rheinlandes einmarschierte. Außerdem dürfe es kein Junktim zwischen den Reparationen und dem Garantiepakt geben.
Die Weltwirtschaftskonferenz in Genua begann am 10. April undendete am 19. Mai 1922. Vertreten waren die meisten europäischen Staaten, darunter Deutschland und Sowjetrußland, außerdem Japan und die britischen Dominions, nicht jedoch die USA und die Türkei, die ebenfalls eingeladen worden waren. Chef der französischen Delegation war Justizminister Louis Barthou. Im Auftrag Poincarés verlangte er von Deutschland die unverzügliche Erfüllung seiner Reparationspflichten und von Sowjetrußland die Anerkennung der Vorkriegsschulden des Zarenreiches sowie die Entschädigung der ausländischen Aktionäre verstaatlichter Unternehmungen. Frankreich durchkreuzte damit erneut die britische Bereitschaft zu Zugeständnissen gegenüber den beiden «Parias», die erstmals nach dem Krieg an einer internationalen Konferenz teilnahmen. Ungewollt ebnete Paris damit den Weg zum deutschrussischen Vertrag von Rapallo, von dem an anderer Stelle noch die Rede sein wird. Daß die Weltwirtschaftskonferenz ergebnislos endete, war nicht nur, aber doch zu wesentlichen Teilen eine Folge der unnachgiebigen Haltung Frankreichs.
Der fortdauernde Gegensatz zu Deutschland bestimmte im Frühjahr 1922 auch die innenpolitische Debatte um ein neues Wehrgesetz. Die Regierung Poincaré bestand auf einem stehenden Heer von 400.000 Mann, verkürzte aber die Dienstzeit um die Hälfte, nämlich von 36 auf 18 Monate. Die oppositionellen Sozialisten hatten nicht die geringste Chance, ihr Konzept einer Volksmiliz mit kurzer Dienstpflicht durchzusetzen.
Im Sommer 1922, als die Nachkriegsdepression allmählich zu Ende ging, kam es erneut zu größeren Streikaktionen, die aber nicht mehr die Dimensionen von 1920 erreichten. Die französische Währung blieb schwach: Ihr Kurs sank zwischen Dezember 1920 und April 1922 gegenüber dem Pfund Sterling von 59 auf 48 Francs. Die französische Wirtschaft erholte sich 1922 nur langsam, während die exportorientierte deutsche Wirtschaft, bedingt durch die sehr viel höhere Geldentwertung, zu prosperieren schien. Poincaré hielt die deutsche Inflation für politisch gewollt, ja für einen Trick, mit dem das Reich versuchte, seinen Reparationspflichten zu entgehen. Deshalb blieb er in der Reparationsfrage hart und wies eine neue Berliner Moratoriumsforderung vom Juli 1922, die von Lloyd George verständnisvoll aufgenommen wurde, entschieden zurück. Vier Jahre nach Kriegsende deutete nichts auf eine Entspannung im deutsch-französischen Verhältnis und alles auf eine Konfrontation hin. Die «Politik der produktiven Pfänder», mitder die französisch-belgische Ruhrbesetzung vom Januar 1923 begründet wurde, warf ihre Schatten voraus.[ 13 ]
Selbstzerstörung einer Demokratie:
Italiens Weg in den Faschismus
In Italien nahmen die sozialen Kämpfe der Nachkriegsjahre ungleich dramatischere Ausmaße an als in Frankreich oder England. Die Jahre 1919 und 1920 gingen als das «biennio rosso» in die Geschichte ein. Es war eine Zeit häufiger großer Streiks und der Besetzung von Ländereien und Fabriken. Im Sommer und Herbst 1919 traten die Beschäftigten der Eisenbahnen und der Post, die Tagelöhner der Po-Ebene und die Halbpächter (mezzadri) Mittelitaliens, ja sogar die Ministerialbeamten in den Ausstand; in Latium und anderen Teilen Mittelitaliens besetzten Bauern das Land der Großgrundbesitzer; mancherorts schlugen Proteste gegen die Teuerung in offenen Aufruhr um. Aus den Parlamentswahlen vom November 1919, bei denen erstmals nach dem Verhältniswahlrecht gewählt wurde, gingen die Sozialisten mit 165 Abgeordneten als stärkste Kraft hervor, gefolgt von den christlich-demokratischen Popolari, auf die 100 Sitze entfielen. Nur mit Hilfe der katholischen Volkspartei und schließlich von Notverordnungen konnte sich der liberale Ministerpräsident Francesco Nitti bis zum Juni 1920 an der Macht behaupten. Dann wurde er von dem «großen alten Mann» der Liberalen, Giovanni Giolitti, abgelöst, der dasselbe Amt erstmals 1892/93 und dann in den Jahren 1903 bis 1914 immer
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