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Geschichte des Westens

Geschichte des Westens

Titel: Geschichte des Westens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich August Winkler
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der Regierung. MacDonald bestritt am 30. September im Unterhaus den Versuch einer Einflußnahme auf die Justiz, konnte damit aber einen Tadelsantrag der konservativen Opposition nicht verhindern. Der Premierminister verband daraufhin die Abstimmung mit der Vertrauensfrage. Am 9. Oktober mußte der Premier dann doch einräumen, daß er mit der Staatsanwaltschaft über den Fall Campbell gesprochen hatte. In der anschließenden Abstimmung über den konservativen Antrag unterlag die Regierung mit 368 zu 198 Stimmen. MacDonald antwortete mit der Auflösung des Unterhauses und der Anordnung von Neuwahlen – den dritten innerhalb von zwei Jahren.
    Am 25. Oktober, vier Tage vor der Wahl, veröffentlichte die «Times» einen angeblichen Brief von Grigorij Sinowjew vom 15. September, in dem der Generalsekretär des Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale die britischen Kommunisten aufforderte, die Labour Party unter ihre Kontrolle zu bringen und die Revolution vorzubereiten. Eine Kopie des Schriftstücks war auch der «Daily Mail» und am 10. Oktober dem Foreign Office zugespielt worden, das seinerseits die «Times» informierte – zusammen mit einem Protest, in dem die Echtheit des Dokuments unterstellt wurde. Tatsächlich war der «Sinowjew-Brief» eine Fälschung russischer Emigranten in Wien. Inwelchem Ausmaß er den Ausgang der Wahlen beeinflußte, muß offen bleiben.
    Bei den Wahlen vom 29. Oktober gewann die Labour Party zwar auf Kosten der Liberalen leicht an Stimmen, die Zahl ihrer Mandate aber sank von 192 auf 151. Die Liberalen, die am 10. Oktober gegen die Regierung MacDonald gestimmt hatten, stellten nur noch 42 Abgeordnete; ihr Stimmenanteil fiel von 30 auf knapp 18 Prozent. Die Konservativen erzielten einen Stimmenanteil von 48 Prozent und 414 Sitze, was einen Gewinn von 161 Mandaten bedeutete. Ein prominenter Liberaler, Winston Churchill, der seit 1906 zahlreiche Kabinettsposten, darunter die des Handels-, des Kriegs- und des Kolonialministers, innegehabt hatte, wurde als «Constitutionalist» mit der Unterstützung vieler konservativer Wähler ins Unterhaus gewählt. Er schloß sich dort der Partei an, der er bereits vor seinem Übertritt zu den Liberalen im Jahre 1904 angehört hatte: den Tories. In der neuen Regierung übernahm Churchill das Amt des Schatzkanzlers. Premierminister wurde erneut Stanley Baldwin. Er sollte fast fünf Jahre lang, bis zu den Unterhauswahlen vom 30. Mai 1929, an der Spitze der Regierung stehen.
    Die Unterhauswahlen vom Oktober 1924 markieren nicht nur das Ende der britischen Nachkriegszeit und das, was Baldwin, ähnlich wie vor ihm schon der amerikanische Präsident Warren Harding, als «Rückkehr zur Normalität» bezeichnete. Der Wahlsieg bedeutete auch die Etablierung des neuen Zweiparteiensystems: Nicht mehr die Liberale Partei, sondern die Labour Party war nun die große Widersacherin der Tories. Die Liberalen hatten sich im späten 19. Jahrhundert zur Zusammenarbeit mit der aufsteigenden Arbeiterbewegung entschlossen, aber sie blieben eine bürgerliche Honoratiorenpartei und waren darum schon strukturell nicht fähig, die Arbeitermassen dauerhaft an sich zu binden. Den Konservativen hingegen gelang es, sich zur Volkspartei der rechten Mitte zu wandeln und durch eine volkstümliche Rhetorik und soziale Versprechungen einen erheblichen Teil der Arbeiterschaft zu sich herüberzuziehen: Auch im Oktober 1924 gewannen sie mehr Arbeiterstimmen als die Labour Party. Diese hatte die Grenzen ihres Wachstums aber, wie sich zeigen sollte, noch längst nicht erreicht. Nach den Wahlen vom Mai 1929 mußte Baldwin sein Amt als Premierminister an den Politiker abtreten, den er im November 1924 abgelöst hatte: an Ramsay MacDonald.[ 12 ]
Konfrontationen und Kompromisse:
Frankreich 1919–1922
    Wie in Großbritannien so war auch in Frankreich schon bald nach Kriegsende von der seit 1914 immer wieder feierlich beschworenen nationalen Einheit nicht mehr viel zu spüren. Frankreich war das Land, das, gemessen an der Bevölkerungszahl, die meisten Kriegstoten zu beklagen hatte: Über 10 Prozent der erwachsenen männlichen Bevölkerung waren gefallen. Die Kaufkraft des Franc erreichte Ende 1918 nur noch 28 Prozent des Vorkriegswertes; die Reallöhne waren 1919 um 15 bis 20 Prozent niedriger als 1914. Um die Arbeiter zu besänftigen, wurde im April 1919 der Achtstundentag eingeführt. Doch der Ausbruch von Streiks ließ sich durch solche Zugeständnisse nicht

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