Geschichte des Westens
wieder innegehabt hatte.
Ihre Hochburgen hatten die Sozialisten im industriellen Norden des Landes, und nirgendwo waren sie so stark wie in Turin, wo der Kreis um die Zeitschrift «L’Ordine Nuovo» um Antonio Gramsci, Angelo Tasca und Palmiro Togliatti wirkte. In der piemontesischen Hauptstadt hatte im vorletzten Kriegsjahr, im August 1917, ein Arbeiteraufstand stattgefunden, der blutig niedergeworfen worden war, als Mythos des kämpfenden Proletariats aber nachwirkte; hier waren nach russischem Vorbild die ersten Arbeiterräte auf italienischem Boden gebildet worden. Für den äußersten linken Flügel der Sozialisten, aus dem nach der Parteispaltung auf dem Parteitag von Livorno im Januar 1921 die Kommunistische Partei Italiens hervorging, lag dahernichts näher als die Erwartung, Turin werde zum Ausgangspunkt der proletarischen Revolution auf der Apenninenhalbinsel, zum italienischen Petrograd, werden. Im April 1920 begann ein von den Unternehmern bewußt provozierter Streik der Turiner Metallarbeiter, in den die radikale Linke große Hoffnungen setzte. Dank der sorgfältig geplanten, höchst wirksamen Abwehrmaßnahmen des neugegründeten industriellen Dachverbandes, der Confindustria, wurde der Ausstand zu einem völligen Fehlschlag. Die Unternehmer und die politische Rechte zogen daraus den Schluß, daß die Linke besiegbar, die rote Revolution also noch aufzuhalten war.
Im September 1920 nahm die soziale Unruhe weiter zu. Nach dem Scheitern von Tarifverhandlungen in der norditalienischen Metallindustrie sperrten die Arbeitgeber die Belegschaften aus, was diese damit beantworteten, daß sie einige der größten Fabriken besetzten und dort die rote Fahne hißten. Die Aktionen wurden nicht von den Sozialisten gesteuert, sie waren spontan. Die Regierung Giolitti verzichtete auf den Einsatz von Polizei und verlegte sich aufs Abwarten. Das Kalkül des Ministerpräsidenten, das Experiment der Selbstverwaltung der Betriebe durch die Arbeiter werde binnen kurzem an seiner Ineffizienz scheitern, ging auf. Dennoch empfanden große Teile der italienischen Öffentlichkeit die Passivität der Regierung als Kapitulation vor einer radikalen Minderheit, die vor offenem Rechtsbruch nicht zurückschreckte. Die Staatsgewalt büßte infolge dieser Erfahrung viel an Autorität ein: ein Erosionsprozeß, der sich fortsetzte, als es im Herbst und Winter 1920/21 zu neuen Streiks und blutigen Ausschreitungen in Turin wie in der Toskana kam, auf die die Regierung wie ein neutraler Beobachter regierte, nämlich gar nicht.
Der Eindruck des Machtvakuums half einer Gruppierung, die entschlossen war, den Ausfall der Staatsautorität auf ihre Weise, durch systematische Anwendung von physischer und psychischer Gewalt gegen die Linke, auszugleichen: den (nach ihrem Symbol, dem Rutenbündel der römischen Liktoren, den «fasces», benannten) «fasci di combattimento», die Benito Mussolini am 23. März 1919 in Mailand gegründet hatte. Mussolini, 1883 in Predappio in der Provinz Forlì-Cesena geboren, war, nachdem er als Lehrer gescheitert war, 1902 in die Schweiz gegangen, wo er sich mit Gelegenheitsarbeiten durchschlug, in Obdachlosenheimen oder unter Brücken übernachtete, mit der russischen Revolutionärin Angelica Balabanoff in Verbindung trat,Georges Sorels «Betrachtungen über die Gewalt», Gustave Le Bons «Psychologie der Massen» und Schriften von Friedrich Nietzsche las sowie in Lausanne einige Vorlesungen des antiparlamentarischen Elitentheoretikers Vilfredo Pareto hörte.
Nach Ableistung des Wehrdienstes in Italien im Jahre 1906 begab sich Mussolini ins Trentino, von wo er 1907, von den österreichischen Behörden ausgewiesen, nach Italien zurückkehrte und dort als radikaler Syndikalist bei den Sozialisten eine Karriere begann, in deren Verlauf er es 1912 bis zum Chefredakteur des Parteiorgans «Avanti» brachte. Mit den Sozialisten brach er, als er im Oktober 1914 in das Lager der Interventionisten wechselte und kurz darauf mit finanzieller Unterstützung der Rüstungsindustrie und französischer Geldgeber ein eigenes Blatt, den nationalistischen «Popolo d’Italia», gründete. Von 1915 bis Anfang 1917 war er Soldat im Stellungskrieg an der Isonzofront, bis er nach einer Verwundung durch eine Explosion aus dem Militärdienst entlassen wurde. Danach nahm er den journalistischen und politischen Kampf an der «Heimatfront» wieder auf und wurde nach Kriegsende einer der beredtesten Verfechter der Parole vom
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