Geschichte des Westens
«verstümmelten Sieg» und damit des italienischen Irredentismus.
Die Wendung von ganz links nach ganz rechts war im Fall Mussolini nicht so erstaunlich, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag. Ein «Marxist» im strikten Sinn war der spätere «Duce» nie gewesen; er war ein Eklektizist, ein Aktionist und ein Voluntarist; Sorels Lehre von der «action directe» beeindruckte ihn wohl auch deshalb, weil sie sich «links» wie «rechts» ausdeuten ließ und ihr Autor im Lauf seines Lebens zwischen den Extremen hin- und herschwankte. Entscheidend war für Mussolini, wo er jeweils die größte Chance der Selbstverwirklichung und der Akklamation für sich und seine jeweilige Position sah. Seit 1914 erschien ihm der Kult der Nation als das geeignete Vehikel, um seinen politischen Einfluß zu steigern und schließlich zur Macht zu gelangen. Entsprechend wählte er sich seine Anhänger und Verbündeten aus. Sie konnten, da die Linke internationalistisch, antiimperialistisch und antimilitaristisch war, nur auf der rechten Seite des politischen Spektrums stehen – Männer wie Gabriele D’Annunzio und die «Arditi», jene ehemaligen Elitesoldaten, die im April 1919 in Mailand das Gebäude des «Avanti», der einstigen Zeitung Mussolinis, in Brand steckten, um ein Signal des nationalen Aufbruchs zu setzen.
Neben Mailand war Triest ein früher Schauplatz von Aktivitäten der «fasci». Hier fanden sie einen nationalen Feind in Gestalt der Slowenen, die nicht umstandslos die österreichische zugunsten der italienischen Fremdherrschaft eintauschen wollten: Die Zerstörung des Hotels «Balkan», wo der Dachverband der slowenischen Organisationen, der «Narodni Dom», ihren Sitz hatte, am 14. Juli 1920 war ein frühes Beispiel faschistischen Terrors. Den eigentlichen Durchbruch aber erzielten die faschistischen Stoßtrupps, die «squadre», am 21. November 1920 in Bologna, einer Hochburg der Sozialisten. An jenem Tag wurde die neugewählte sozialistische Stadtverwaltung in ihr Amt eingeführt. Die Anhänger Mussolinis nahmen das zum Anlaß, schwere Krawalle auszulösen und eine bürgerkriegsartige Stimmung zu erzeugen. In den folgenden Wochen und Monaten gingen die schwarz uniformierten Fasci dazu über, Einrichtungen und Funktionäre der Linken in der gesamten Emilia-Romagna sowie in der Toskana und bald auch in weiten Teilen des übrigen Italien zu überfallen.
Zu den gewaltsamen Übergriffen auf die Sozialisten und Kommunisten kamen immer häufiger auch ähnliche Attacken auf die Popolari. Erzwungenes Trinken von Rizinusöl gehörte zu den gängigen Demütigungen der politischen Gegner. In der Emilia waren es die Grundbesitzer, die die «Schwarzhemden» finanzierten, um mit ihrer Hilfe unbotmäßige, mit den Linken sympathisierende Bauern einzuschüchtern und zu bestrafen. «Spedizioni punitive» (Strafexpeditionen) nannten die Squadristen die Überfälle, in denen sie blutige Vergeltung übten, wann immer sie sich durch Kommunisten oder Sozialisten provoziert fühlten oder einer der Ihren Opfer linker Gewalt geworden war. Das «biennio rosso» wurde seit Anfang 1921 von einen «biennio nero», von zwei Jahren des schwarzen Terrors, abgelöst.
Bei den Wahlen vom November 1919 hatten die Faschisten eine schwere Niederlage erlitten: Lediglich in Mailand gelang es ihnen, eine eigene Liste aufzustellen, auf die nur 4000 Stimmen entfielen. Im Frühjahr 1921 änderte sich die innenpolitische Lage dadurch, daß die Popolari auf Drängen des Vatikans Giolitti die parlamentarische Unterstützung entzogen: Grund war ein Gesetz vom September 1920, das, um das riesige Haushaltsdefizit zu verkleinern, fiskalisch bisher nicht erfaßten Kirchenbesitz, den Besitz der sogenannten «toten Hand», der Besteuerung unterwarf, wogegen die Kurie sich energisch verwahrte. Giolitti antwortete mit der Auflösung der Kammer undNeuwahlen im Mai 1921. Um eine sichere Mehrheit zu erlangen, ging der Ministerpräsident ein Wahlbündnis mit den Nationalisten und den Faschisten ein, die zusammen mit den Liberalen der Richtung Giolitti den «Nationalen Block» (Blocchi Nazionali) bildeten. Mussolinis Bewegung wurde durch das faktische Zusammengehen mit einem Teil der Liberalen politisch aufgewertet: Sie gewann, was sie zuvor nicht besessen hatte, den Anschein gesellschaftlicher Respektabilität.
Während des Wahlkampfes unterbanden die Faschisten durch massiven Terror in vielen Gegenden faktisch jede sozialistische oder kommunistische
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