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Geschichte des Westens

Geschichte des Westens

Titel: Geschichte des Westens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich August Winkler
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Reparationen überforderten die wirtschaftliche Leistungskraft des Reiches, und daher waren katastrophale Folgen vorhersehbar. Gerade diese sollten aber die Siegermächte überzeugen, daß eine Revision des Londoner Zahlungsplans unumgänglich war. Nicht nur Wirth folgte dieser Logik, auch die Mehrheit der Abgeordneten tat es. Am 10. Mai 1921 nahm der Reichstag mit 220 gegen 172 Stimmen das Londoner Ultimatum an. MSPD, USPD und Zentrum stimmten geschlossen dafür, außerdem eine starke Minderheit der DDP und kleine Minderheiten von DVP und BVP. Die Regierung Wirth hatte ihre erste Kraftprobe bestanden.
    Von den im engeren Sinn politischen Forderungen des Londoner Ultimatums wurde
eine
, die nach der Aburteilung von Kriegsverbrechern, praktisch nicht erfüllt. Zwischen Mai und Juli 1921 fanden zwar neun Verfahren gegen zwölf Angeklagte vor dem Reichsgericht in Leipzig statt. Aber nur in der Hälfte der Fälle kam es zu Verurteilungen. Das größte Aufsehen erregte das Urteil gegen zwei Oberleutnants zur See, die an der Versenkung von Rettungsbooten eines zuvor torpedierten Dampfers teilgenommen hatten. Beide wurden zu vier Jahren Gefängnis verurteilt, was bei der Reichsmarine leidenschaftliche Empörung hervorrief. Im Januar 1922 endete die Strafhaft abrupt: Angehörige der rechtsradikalen, von Kapitänleutnant Ehrhardt geführten «Organisation Consul» befreiten die beiden Offiziere aus ihren Gefängnissen. Die Alliierten legten gegen die geringe Zahl von Verurteilungen und die milden Strafen Protest ein, doch es blieb bei den papiernen Einsprüchen. Die deutschen Kriegsverbrechen blieben, abgesehen von den sechs Verurteilungen des Jahres 1921, ungesühnt.
    Die alliierte Forderung nach Entwaffnung wurde im Frühsommer 1921 erfüllt – formell jedenfalls. Sie betraf vor allem die bayerischen Einwohnerwehren, deren Auflösung die Münchner Regierung schon im Vorjahr hartnäckig verweigert hatte. Anfang Juni 1921 mußte Ministerpräsident von Kahr unter massivem alliiertem Druck schließlichdoch die Entwaffnung anordnen. Drei Wochen später, am 24. Juni, erklärte die Reichsregierung die bayerischen Einwohnerwehren, die ostpreußischen Orts- und Grenzwehren und die von dem bayerischen Forstrat Georg Escherich geführte paramilitärische «Organisation Escherich», kurz «Orgesch» genannt, im ganzen Reich für aufgelöst.
    Paramilitärischer Politik war damit aber noch längst nicht der Boden entzogen. Die «Ordnungszelle» Bayern blieb das Eldorado zahlreicher «Vaterländischer Verbände», die die Einwohnerwehren an Radikalität weit übertrafen. Das staatliche Gewaltmonopol wurde im Deutschland der Weimarer Republik zwar längst nicht so weitgehend außer Kraft gesetzt wie im Italien der Jahre 1918 bis 1922. Aber paramilitärische Verbände und Parteiarmeen hatten nach dem Abschluß der offiziellen «Entwaffnung» ihre große Zeit erst noch vor sich. Die erzwungene Entmilitarisierung des Reiches wurde bis zu einem gewissen Grad durch die Paramilitarisierung der deutschen Gesellschaft überkompensiert. Eine kriegsverherrlichende Literatur tat das ihre, um den Geist am Leben zu erhalten, der sich den Körper bauen sollte: ein militärisch starkes, zur Revanche für 1918 fähiges Deutschland.
    Der harte Kern des Londoner Ultimatums ließ sich nicht aufweichen: Im Jahre 1921 mußte Deutschland 3,3 Milliarden Goldmark an Reparationen zahlen, davon 1 Milliarde bereits am 30. Mai. Von dieser ersten Rate konnte das Reich lediglich 150 Millionen in bar aufbringen. Den Rest finanzierte es über Schatzwechsel mit dreimonatiger Laufzeit, die nur mit größten Schwierigkeiten zum Fälligkeitstermin eingelöst werden konnten. Die inflationstreibende Wirkung dieser Operation lag offen zutage und gab dem sozialdemokratischen Reichswirtschaftsminister Robert Schmidt am 19. Mai 1921 Anlaß zu der Forderung, die deutsche Finanzpolitik auf eine neue Grundlage zu stellen: die Enteignung von 20 Prozent des Kapitalvermögens von Landwirtschaft, Industrie, Handel, Banken und Hausbesitz.
    Mit seiner Forderung nach einer «Erfassung» der Sachwerte kündigte Schmidt den stillschweigenden «Inflationskonsens» auf, der die deutsche Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik seit 1919 geprägt hatte. Hohe Löhne waren ein Mittel gewesen, mit dem Regierungen und Arbeitgeber der sozialen Radikalisierung entgegenzuwirken versuchten. Die Sozialdemokraten und die Gewerkschaften hatten diese Linie mitgetragen, im Frühjahr 1921 aber

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