Geschichte des Westens
beschloß, sich nicht an der neuen Regierung zu beteiligen, verblieb als letzte Option nur eine Weimarer Rumpfkoalition aus SPD und Zentrum. Die DDP akzeptierte, daß ihr Parteimitglied Otto Geßler als «Fachminister» weiterhin für die Reichswehr zuständig blieb, und ließ ihr Vorgehen damit im nachhinein als Farce erscheinen. Wirth übernahm am 26. Oktober 1921 erneut die Kanzlerschaft. Am 31. Januar 1922 übertrug er das zeitweilig von ihm selbst geleitete Auswärtige Amt dem früheren Wiederaufbauminister Walther Rathenau. Damit war die DDP nach dreimonatiger Unterbrechung auch formell wieder Regierungspartei.
Zu dem Zeitpunkt, als Rathenau sein neues Amt antrat, lag Deutschland bereits seit zwei Wochen die Einladung des Obersten Rates der Alliierten zu der schon erwähnten internationalen Konferenz in Genua vor, auf der erstmals nach dem Krieg Sieger und Besiegte, unter den letzteren Deutschland und Sowjetrußland, Probleme des wirtschaftlichen Wiederaufbaus erörtern sollten. Eine vorherige Abstimmung zwischen Berlin und Moskau, den beiden «have nots» der Weltpolitik, lag nahe. Zwar gab es seit dem 5. November 1918, als die Regierung des Prinzen Max von Baden aus Protest gegen russische Geldzahlungen an deutsche Revolutionäre die diplomatischen Beziehungen mit Sowjetrußland abgebrochen hatte, keine diplomatischen Vertretungen beider Staaten im jeweils anderen Land, aber seit dem Mai 1921 immerhin Handelsvertretungen. Diese waren kurz nach dem mitteldeutschen Aufstand, der Märzaktion, errichtet worden – ein Zeichen, daß aus sowjetischer Sicht ein Umsturzversuch der Komintern eines, die amtliche Politik Moskaus etwas anderes war: Während die «Internationalisten» die Weltrevolution vorbereiteten, bemühten sich die «Realpolitiker», die Position ihres Landes im Zusammenspiel mit kapitalistischen Staaten, obenan Deutschland, zu festigen.
Im besonderen Maß galt das für den militärischen Bereich. Im September 1921 begann eine streng geheime, zunehmend systematische Zusammenarbeit zwischen Reichswehr und Roter Armee, ausgerichtet am russischen Interesse, von der überlegenen deutschen Technik zu profitieren, und am deutschen Interesse, mit russischer Hilfe die Fesseln des Vertrags von Versailles, namentlich auf den Feldern Luftwaffe und Giftgasproduktion, abzustreifen. Dazu kam der gemeinsame Gegensatz zu Polen. Ebensowenig wie Rußland fand sich Deutschland mit seinen Gebietsverlusten an den neuen polnischen Staat ab. Der Chef der Heeresleitung, General von Seeckt, hatte bereits Anfang Februar 1920, am Vorabend des polnisch-russischen Krieges, die Auffassung vertreten, nur bei «festem Anschluß an Groß-Rußland» habe Deutschland Aussichten, die an Polen verlorenen Gebiete und seine «Weltmachtstellung» wiederzugewinnen. Reichskanzler Wirth, als Finanzminister ein aktiver Förderer der geheimen Zusammenarbeit zwischen Reichswehr und Roter Armee, teilte Seeckts Ansicht. Mehrfach forderte er 1922, daß Polen zertrümmert und Deutschland und Rußland wieder Nachbarn werden müßten.
Der eigentliche Architekt der deutschen Rußlandpolitik war derLeiter der Ostabteilung des Auswärtigen Amtes, Ago von Maltzan, ein durch und durch wilhelminisch geprägter Diplomat. Anfang 1922 handelte er mit Karl Radek, dem Deutschlandexperten der sowjetischen Führung, die Grundzüge eines Abkommens aus, das dem russischen Wunsch nach enger wirtschaftlicher Zusammenarbeit mit Deutschland Rechnung trug, und zwar ohne die Aufsicht eines internationalen Syndikats, wie es die Alliierten für den Wiederaufbau Rußlands vorgeschlagen hatten. Rathenau folgte dieser Linie zunächst nicht. Im Gegensatz zu Wirth, Seeckt und Maltzan war er, ebenso wie Reichspräsident Ebert und die Sozialdemokraten, ausgesprochen «west orientiert». Er wollte deutsch-russische Alleingänge vermeiden und trat deshalb für ein internationales Wirtschaftskonsortium ein. Die deutsch-russischen Verhandlungen gerieten infolgedessen ins Stocken. Sie wurden erst wieder aufgenommen, als die russische Delegation unter Außenminister Tschitscherin Anfang April auf dem Weg nach Genua in Berlin Station machte. Zum Abschluß eines Abkommens kam es bei dieser Gelegenheit noch nicht, aber doch zu einer Annäherung in so vielen Einzelpunkten, daß die Unterzeichnung eines Vertrags in naher Zukunft möglich erschien.
In Genua verlief dann alles anders, als von Ebert und Rathenau gewünscht. Zwar stimmten die alliierten Experten der deutschen These
Weitere Kostenlose Bücher