Geschichte des Westens
Westfalen, der sich als Reichs- und preußischer Kommissar im unruhigen Ruhrgebiet bewährt hatte. In seiner neuen Funktion sorgte Severing für ein großes Revirement unter Oberpräsidenten, Regierungspräsidenten, Landräten und Polizeipräsidenten. Beamte, die mit den Putschisten kollaboriert hatten, wurden durch Männer ersetzt, denen der neue Innenminister zutraute, daß sie die Republik entschlossen verteidigen würden. Damit begann ein neues Kapitel der preußischen Geschichte:Der ehemalige Hohenzollernstaat entwickelte sich binnen weniger Jahre zu einem Bollwerk der deutschen Republik.
Ganz anders verlief die Entwicklung in Bayern. Am 14. März 1920 erlebte München seine eigene Art von Staatsstreich: Der Kommandeur der Reichswehrgruppe IV, General Ritter von Möhl, der in enger Verbindung zu monarchistischen Politikern und zu den paramilitärischen Einwohnerwehren stand, forderte den sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Johannes Hoffmann ultimativ auf, er möge im Interesse von Ruhe und Ordnung ihm, Möhl, die vollziehende Gewalt übertragen. Gegen den Widerspruch Hoffmanns fügte sich das bayerische Kabinett, eine Minderheitsregierung aus Sozialdemokraten, Bayerischem Bauernbund und Parteilosen, diesem Ansinnen. Am 16. März wählte der Landtag den oberbayerischen Regierungspräsidenten Gustav von Kahr, einen überzeugten Anhänger des Hauses Wittelsbach, zum Ministerpräsidenten. Seiner Regierung gehörten Mitglieder der Bayerischen Volkspartei, der DDP und des Bayerischen Bauernbundes an. Die Sozialdemokraten gingen in die Opposition, aus der sie bis zum Untergang der Weimarer Republik nicht mehr herauskamen. Bayern wurde seit dem Frühjahr 1920 zur rechten «Ordnungszelle» und damit zum Gegenpol des sozialdemokratisch geführten republikanischen Preußen: Es bildete fortan eine Schutzburg aller Kräfte, die auch im Reich einen Rechtsruck herbeiführen und die parlamentarische Demokratie durch ein autoritäres Regime ersetzen wollten.
Mit den Regierungsumbildungen im Reich, in Preußen und Bayern war noch immer kein Schlußstrich unter den Kapp-Lüttwitz-Putsch gezogen. Das blutige Ende kam erst noch: die Niederschlagung des Ruhraufstands. Im rheinisch-westfälischen Industriegebiet hatte sich im Gefolge des schwarz-weiß-roten Staatsstreichs die Rote Ruhrarmee, der bewaffnete Arm einer weit über die Anhänger der KPD hinausreichenden proletarischen Massenbewegung, gebildet und in allen größeren Orten die Macht übernommen. Die Führer dieser Armee dachten nicht daran, diese Position nach Wiederherstellung der verfassungsmäßigen Ordnung in Berlin wieder zu räumen. Im «wilden Westen» des Bergbaureviers, wo Linkskommunisten und Syndikalisten das Sagen hatten, waren die örtlichen Vollzugsräte noch weit radikaler als in den östlichen und südlichen, von der Metallindustrie geprägten Teilen des Ruhrgebiets, wo die USPD den Ton angab.
Diesen Gegensatz nutzten die Reichs- und die preußische Regierungzu einer Teilung der Fronten. Severing handelte mit den moderateren Vollzugsräten das «Bielefelder Abkommen» vom 24. März aus, das aber nur diese, nicht die radikaleren Kräfte zufrieden stellte. In einigen westlichen Städten, namentlich in Duisburg, herrschten mittlerweile Anarchie und Chaos. Damit rückte eine militärische Lösung des Konflikts immer näher. Die Reichswehr setzte dabei auch Einheiten ein, die kurz zuvor noch die Putschisten unterstützt hatten. Die Gesamtzahl der Toten des Bürgerkriegs im Industrierevier ist nie genau ermittelt worden: Sie lag bei den Bergarbeitern weit über 1000; die Reichswehr zählte 208 Tote und 123 Vermißte, die Sicherheitspolizei 41 Tote.
Mit dem Ruhraufstand endeten die proletarischen Massenbewegungen in Deutschland, die mit den wilden Streiks von 1917 begonnen hatten. Vieles spricht dafür, in der Erhebung vom Frühjahr 1920 die dritte Phase der deutschen Revolution zu sehen, die im Mai 1919, nach der Niederwerfung der zweiten Münchner Räterepublik in eine Art latentes Stadium getreten war. Der Protest der radikalen Arbeiter richtete sich zum einen gegen das politische und gesellschaftliche System, das sie für den Krieg verantwortlich machten, und gegen jene, die nach 1918 dieses System wiederherstellen wollten. Zum anderen kämpften die Aufständischen gegen die überkommenen Arbeiterorganisationen, denen die radikale Linke vorwarf, sie seien inzwischen selbst ein Teil des kapitalistischen Systems geworden.
Der Wunsch nach einer
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