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Geschichte des Westens

Geschichte des Westens

Titel: Geschichte des Westens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich August Winkler
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zu, daß die Reparationen zum Währungsverfall in Deutschland beigetragen hatten und keinesfalls die Leistungskraft des Reiches übersteigen durften. Aber gleichzeitig lief ein beunruhigendes Gerücht um: Bei den Separatverhandlungen zwischen den Alliierten und den Russen zeichne sich eine Verständigung auf deutsche Kosten ab. Unter dem Eindruck solcher (wie sich bald zeigen sollte, unzutreffender) Meldungen gab Rathenau schließlich dem Drängen Maltzans nach und beauftragte diesen, die unterbrochenen Gespräche mit den Russen wiederaufzunehmen.
    Die Entscheidung fiel in der Nacht vom 15. zum 16. April 1922 auf der legendären «Pyjama-Party» in Rathenaus Hotelzimmer. Der Außenminister ließ sich vom Delegationsleiter, Reichskanzler Wirth, und Maltzan dazu überreden, entgegen der ausdrücklichen Weisung des Reichspräsidenten und ohne vorherige Information des britischen Premierministers Lloyd George am folgenden Tag ein Abkommen mit den Russen zu schließen – einen legendenumwobenen, nach dem Unterzeichnungsort, dem oberitalienischen Seebad Rapallo, benannten Vertrag,durch den Deutschland und Sowjetrußland wechselseitig auf etwaige kriegsbedingte Entschädigungsansprüche verzichteten, ihre diplomatischen Beziehungen wiederaufnahmen und sich auf die Meistbegünstigungsklausel festlegten: Handelspolitische Vorteile, die sie künftig anderen Staaten gewährten, kamen damit automatisch auch dem Vertragspartner zugute.
    In Berlin fand der Vertragsabschluß ein gemischtes, aber überwiegend positives Echo. Zwar war der Reichspräsident nachhaltig darüber verstimmt, daß Kanzler und Außenminister sich über seine Weisungen hinweggesetzt hatten, doch nach außen stärkte er der Reichsregierung den Rücken. Der Reichstag billigte am 4. Juli in dritter Lesung den Vertrag gegen wenige Stimmen aus den Reihen der DNVP. Einer der Warner war der Reichstagsabgeordnete Rudolf Breitscheid von der Rest-USPD, der das Abkommen Ende April 1922 eine schwere Schädigung der deutschen Interessen nannte und dieses Verdikt damit begründete, daß der Vertrag die sich anbahnende wirtschaftliche Verständigung mit dem Westen störe.
    Die Westmächte und vor allem Frankreich waren angesichts der Art und Weise, wie die deutsch-russische Vereinbarung zustande gekommen war, aufs höchste alarmiert. Zwar enthielt der Vertrag nicht, wie vielfach gemutmaßt wurde, geheime Zusatzklauseln, etwa über militärische Dinge. Aber der fast schon konspirative Charakter der Unterzeichnung war geeignet, Mißtrauen hervorzurufen, und dieses wäre noch viel größer gewesen, hätten die Alliierten Kenntnis von der geheimen Kooperation zwischen Reichswehr und Roter Armee gehabt. Ob ohne den Vertrag in Genua substantielle Fortschritte in der Reparationsfrage erzielt worden wären, ist schon wegen der Nichtteilnahme der USA fraglich. Nach dem Paukenschlag von Rapallo war ein alliiertes Entgegenkommen jedenfalls erst einmal in noch weitere Ferne gerückt als zuvor. Am 19. Mai 1922 wurde die Konferenz von Genua ergebnislos abgebrochen, da Sowjetrußland sich beharrlich weigerte, die russischen Vorkriegsschulden anzuerkennen.
    Bereits am 24. April, eine Woche nach der Unterzeichnung des Vertrags von Rapallo, deutete der französische Ministerpräsident Raymond Poincaré in einer Rede in Bar-le-Duc die Möglichkeit einer militärischen Intervention Frankreichs an. Am 2. Mai mahnte General Degoutte, der Oberkommandierende der alliierten Truppen im Rheinland, in einem Brief an Kriegsminister Maginot, angesichts der in Rapallovollzogenen deutsch-sowjetischen Annäherung dürfe Frankreich, wenn es das Ruhrbecken okkupieren wolle, keine Zeit mehr verlieren. Der Vertrag von Rapallo war ein Rückfall in wilhelminische Risikopolitik, vorangetrieben von Kräften, die dem wilhelminischen Denken verhaftet blieben. Als Wirth sich gegenüber Tschitscherin in Genua für die «Wiederherstellung der Grenzen von 1914» aussprach, wußte er sich in dieser Forderung mit großen Teilen der deutschen Führungsschicht einig.
    Der Mann, der als Partner Tschitscherins auf deutscher Seite den Vertrag von Rapallo widerstrebend unterzeichnet hatte, erlebte dessen Ratifizierung nicht mehr. Am späten Vormittag des 24. Juni 1922 wurde Reichsaußenminister Walther Rathenau auf der Fahrt von seiner Villa im Grunewald ins Auswärtige Amt von zwei Männern, die sein Auto überholten, durch Pistolenschüsse getötet. Die rasch ermittelten Täter, der Oberleutnant zur See a. D. Erwin

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