Geschichte des Westens
begannen sie zu begreifen, daß die Geldentwertung die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse fortschreitendzugunsten der Sachwertbesitzer, also zu Lasten der Arbeitnehmer verschob. Zum anderen erkannten sie, daß eine Sanierung der Finanzen ohne massiven Eingriff in die Vermögenssubstanz unmöglich war. Gegen diese Einsicht wehrten sich die Unternehmer und die bürgerlichen Parteien, darunter auch die Koalitionspartner der SPD. Walther Rathenau, der der DDP angehörende Wiederaufbauminister und ehemalige Präsident des Aufsichtsrats der Allgemeinen Elektricitäts-Gesellschaft, war der erste, der Schmidt scharf widersprach. Ihm schloß sich kurz darauf auch Reichskanzler Joseph Wirth an, der in Personalunion auch das Reichsfinanzministerium leitete. Der Vorstoß des sozialdemokratischen Wirtschaftsministers war damit gescheitert.
Aus der Sicht der politischen Rechten war die «Erfüllungspolitik» schon deshalb verdammenswert, weil «Marxisten», nämlich MSPD und USPD, dem Londoner Ultimatum zur Annahme verholfen hatten. Durch ihre Zusammenarbeit mit der gemäßigten Linken geriet aber auch die politische Mitte ins Schußfeld der Rechten. Heftigen verbalen Attacken folgten bald auch mörderische Taten. Am 9. Juni 1921 wurde der Fraktionsvorsitzende der USPD im bayerischen Landtag, Karl Gareis, in München von einem Unbekannten erschossen. Am 26. August brachten zwei Mitglieder der «Organisation Consul» und des Münchner «Germanenordens» den ehemaligen Reichsfinanzminister und Unterzeichner des Waffenstillstands vom 11. November 1918, Matthias Erzberger, bei Griesbach im nördlichen Schwarzwald durch Pistolenschüsse um. Die Täter entkamen über München nach Ungarn. Den Auftraggeber des Attentats, den Führer des «Germanenordens», Kapitänleutnant Manfred Killinger, sprach das Schwurgericht Offenburg im Juni 1922 von der Anklage der Beihilfe zum Mord frei.
Von großen Teilen der nationalistischen Presse wurde der Mord an Erzberger nachdrücklich verteidigt; die deutschnationale «Kreuz-Zeitung» verglich die Täter mit Brutus, Wilhelm Tell und Charlotte Corday, die 1793 den Jakobiner Marat umgebracht hatte. Die politische Linke beantwortete die Gewaltverherrlichung von rechts mit großen Demonstrationen, an denen sich auch die KPD beteiligte. Die Reichsregierung beschloß am 29. August unter Vorsitz von Reichspräsident Ebert eine Notverordnung nach Artikel 48 der Reichsverfassung, die dem Reichsminister des Innern die Befugnis gab, republikfeindliche Druckschriften, Versammlungen und Vereinigungen zu verbieten.
Das daraufhin ergangene Verbot mehrerer rechtsradikaler Zeitungen,darunter des «Völkischen Beobachters», des Organs der 1919 in München gegründeten Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei, löste einen schweren Konflikt mit Bayern aus: Die Staatsregierung weigerte sich, die Verordnung durchzuführen. Eine zweite Notverordnung vom 28. September war das Ergebnis von Verhandlungen mit der bayerischen Regierung, an deren Spitze eine Woche zuvor der eher gemäßigte Graf Lerchenfeld, ein Politiker der BVP, getreten war. Die neue Verordnung schützte nicht mehr nur «Vertreter der republikanisch-demokratischen Staatsform», sondern alle «Personen des öffentlichen Lebens»; die Zuständigkeit für die Durchführung von Verboten und Beschlagnahmen zum Schutz der Republik ging auf die Landesbehörden über. Im Gegenzug verpflichtete sich der Freistaat, den seit November 1919 bestehenden Landesausnahmezustand bis spätestens zum 6. Oktober 1921 aufzuheben.
Ende Oktober geriet das Kabinett Wirth in eine durchaus vermeidbare, schwere Krise. Anlaß war die Entscheidung des Obersten Rates der Alliierten zur Teilung Oberschlesiens. Um vor aller Welt gegen die Mißachtung des Selbstbestimmungsrechts der Deutschen zu protestieren, drängten die DDP und, weniger entschieden, das Zentrum auf den sofortigen Rücktritt der Reichsregierung. Die SPD hielt diesen Schritt für ebenso riskant wie nutzlos, konnte sich aber damit nicht durchsetzen. Am 22. Oktober teilte Wirth dem Reichspräsidenten die Demission seines Kabinetts mit.
Es folgten Verhandlungen über eine Große Koalition – eine Krisenlösung, mit der sich nun auch die Sozialdemokraten einverstanden erklärten. Die DVP hingegen war dazu nicht bereit und nannte als Grund ihren Zweifel, ob die SPD wirklich den Willen habe, sich in eine «nationale Einheitsfront» in der Oberschlesienfrage einzureihen. Als daraufhin auch die DDP
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