Geschichte des Westens
gewährleisten sollte.
Eine Umgruppierung der politischen Kräfte im Gefolge des Mordes an Rathenau gab es auch auf der Linken: Mehrheits- und Unabhängige Sozialdemokraten bildeten im Juli 1922 eine Arbeitsgemeinschaft ihrer Reichstagsfraktionen; im September schlossen sie sich wieder zu einer Partei zusammen. Die USPD von 1922 war freilich nicht mehr die von 1917. Der linke Flügel der Unabhängigen hatte sich im Oktober 1920 auf dem Parteitag in Halle für den Anschluß an die Kommunistische Internationale und damit für die Vereinigung mit der KPD ausgesprochen.
Der
Teil der USPD, der sich zwei Jahre später mit den Mehrheitssozialdemokraten wiedervereinigte, bestand aus der gemäßigten Minderheit, zu der die Parteiführer Wilhelm Dittmann und Artur Crispien sowie die Parteiintellektuellen Rudolf Hilferding und Rudolf Breitscheid gehörten, außerdem ehemalige kommunistische «Rechtsabweichler» um den früheren Parteivorsitzenden Paul Levi, die 1921 aus der KPD ausgeschlossen worden waren. Es bedurfte der Erfahrung des erstarkenden Rechtsradikalismus und schließlich des Mordes vom 24. Juni 1922, um MSPD und USPD davon zu überzeugen, daß sie sich die Fortdauer ihrer Spaltung nicht mehr leisten konnten.
Der Zusammenschluß vom September 1922 stärkte das politische und vor allem das parlamentarische Gewicht der Sozialdemokratie beträchtlich. Doch es gab eine Kehrseite der Fusion: Ein Jahr zuvor, im September 1921, hatte sich die Mehrheitspartei auf ihrem Parteitag in Görlitz ein betont reformistisches, maßgeblich von Eduard Bernstein mitverfaßtes Programm gegeben, in dem sie sich als «Partei des arbeitenden Volkes in Stadt und Land» und «Kampfgemeinschaft für Demokratie und Sozialismus» präsentierte, der sich alle Gleichgesinnten, unabhängig von ihrer Klassenzugehörigkeit, anschließen konnten. Aus der Sicht der Rest-USPD war eine solche Abschwächung des Klassenkampfgedankens unvereinbar mit der weiterhin hochgehaltenen marxistischen Parteitradition. Das auf dem Vereinigungsparteitag in Nürnberg beschlossene Aktionsprogramm erinnerte in seiner Diktion sehr viel mehr an das alte Erfurter Programm von 1891 als an das Görlitzer Programm; das von Rudolf Hilferding entworfene Heidelberger Programm von 1925 las sich ebenfalls sehr viel «marxistischer» als sein Vorläufer von 1921.
Zur Reideologisierung kam die Verhärtung des Parteistandpunkts in Sachen Regierungsbeteiligung. Die Bildung einer Arbeitsgemeinschaft der beiden sozialdemokratischen Reichstagsfraktionen hatte zurFolge, daß die Bemühungen «rechter» Sozialdemokraten um eine Große Koalition erst einmal vertagt werden mußten: Die meisten Abgeordneten der USPD und der linke Flügel der MSPD hätten ein Regierungsbündnis mit der unternehmerfreundlichen DVP nicht mitgetragen. Gleichwohl war die Partei Gustav Stresemanns mittlerweile ein stiller Teilhaber der Regierung Wirth. Am 19. Juli 1922, fünf Tage nach Bildung der Arbeitsgemeinschaft der Fraktionen von MSPD und USPD, bildeten DVP, DDP und Zentrum eine Arbeitsgemeinschaft der verfassungstreuen Mitte, die das neue Übergewicht der Sozialdemokraten ausgleichen sollte. Durch ihre Zustimmung zum Republikschutzgesetz war die Deutsche Volkspartei tags zuvor demonstrativ in die politische Mitte gerückt. Am 24. Oktober sorgte die DVP dafür, daß der Reichstag mit der erforderlichen verfassungsändernden Zweidrittelmehrheit die Amtszeit des (immer noch vorläufigen) Reichspräsidenten Ebert bis zum 30. Juni 1925 verlängerte. Damit wurde die für Anfang Dezember 1922 vorgesehene Direktwahl durch das Volk überflüssig – eine Wahl, die gemäßigte bürgerliche Parteien aus Sorge um den inneren Frieden lieber vermeiden wollten. (Im Falle der DVP kam das Motiv hinzu, einem direkten Votum für oder gegen Ebert tunlichst auszuweichen.)
Im Herbst 1922 hätte es sehr gute Gründe für die Bildung einer Großen Koalition gegeben. Der Mord an Rathenau hatte schlagartig zerstört, was an Vertrauen in die Mark noch vorhanden war: In- und Ausländer stießen ihre Markguthaben panikartig ab; die Kapitalflucht nahm gigantische Ausmaße an. Um dieselbe Zeit endete die inflationsbedingte deutsche «Sonderkonjunktur», die das Reich vor der Weltwirtschaftskrise der frühen zwanziger Jahre abgeschirmt hatte: Das Interesse an billigen Einfuhren aus Deutschland sank in dem Maß, wie die einheimische Industrie ihre Leistungskraft zurückgewann. Der deutsche Export verlor nun die «Prämie»,
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