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Geschichte des Westens

Geschichte des Westens

Titel: Geschichte des Westens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich August Winkler
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wurden. Es vergab auch Kredite in Millionenhöhe an den Kohlenbergbau und die Eisen- und Stahlindustrie, um den stillgelegten Betrieben die Lohnfortzahlung zu ermöglichen. Das Ruhrgebiet wurde durch den passiven Widerstand folglich, finanziell gesehen, zu einem Faß ohne Boden. Die Hyperinflation überschlug sich förmlich. Der Außenwert der deutschen Währung, den die Reichsbank durch den Verkauf von Goldreserven und Devisen von Februar bis April 1923 bei etwa 21.000 Mark für einen Dollar vorübergehend stabilisiert hatte, fiel im Mai auf knapp 48.000 und im Juni auf 110.000 Mark.
    Je deutlicher das Scheitern des passiven Widerstands sich abzeichnete, desto stärker wuchs auf der radikalen Rechten die Neigung, vom passiven zum aktiven Widerstand in Form von Sabotageakten überzugehen. Im März und April 1923 wurden mehrere Sprengstoffanschläge auf Eisenbahnanlagen im besetzten Gebiet verübt. Einen der Beteiligten, den Nationalsozialisten Albert Leo Schlageter, verhaftete die französische Kriminalpolizei im April in Essen. Am 9. Mai wurde er durch ein französisches Kriegsgericht in Düsseldorf wegen Spionage undSabotage zum Tode verurteilt. Am 26. Mai erfolgte die Vollstreckung des Urteils durch Erschießen.
    Die Hinrichtung Schlageters löste in Deutschland einen Proteststurm aus, der auch im fernen Moskau sein Echo fand. Am 20. Juni 1923 würdigte Karl Radek, der Deutschlandexperte der Kommunistischen Internationale, in einer Rede vor dem Erweiterten Exekutivkomitee den «Faschisten» Schlageter als einen «Märtyrer des deutschen Nationalismus» und mutigen Soldaten der Konterrevolution, der es verdiene, «von uns, Soldaten der Revolution, männlich ehrlich gewürdigt zu werden». Männer wie Schlageter würden jedoch, wie Radek unter Anspielung auf den Titel eines Freikorpsromans formulierte, zu «Wanderern ins Nichts», wenn sie nicht lernten, fortan für die Sache des großen arbeitenden deutschen Volkes zu kämpfen, das ein Glied sei in der Familie der um ihre Befreiung kämpfenden Völker.
    Radeks «Schlageter-Rede» war ein Versuch, die nationalistischen Massen von ihren Führern zu trennen und die nationalrevolutionäre in eine sozialrevolutionäre Bewegung zu verwandeln. Aus der Sicht der Sowjetunion und der Komintern bot die deutsch-französische Konfrontation von 1923 die ungewöhnliche Chance, die gesamte Nachkriegsordnung von 1919 zu Fall zu bringen. Ein nationaler Befreiungskrieg, den Deutschland gegen Frankreich führte, konnte durch russische Unterstützung rasch die Durchbruchschlacht der Weltrevolution werden – vorausgesetzt, die von den «Faschisten» verführten nationalen Massen fanden sich zur Aktionseinheit mit den Kommunisten und unter ihrer Führung bereit. Diese Strategie in die Tat umzusetzen war das Ziel jener «nationalbolschewistischen» Agitation unter den Anhängern der nationalistischen Rechten, der sich die KPD im Sommer 1923 widmete – mit bemerkenswerten rhetorischen Zugeständnissen an den Antisemitismus, aber, aufs ganze gesehen, ohne politischen Erfolg.
    Bei den Arbeitern fanden die Parolen der KPD sehr viel mehr Widerhall. Die Kommunisten waren nicht die Urheber, wohl aber die Nutznießer der «wilden Streiks», die Mitte Mai im Ruhrgebiet stattfanden. Bei Betriebsrats-, Gewerkschafts-, Kommunal- und Landtagswahlen im Sommer 1923 verzeichnete die KPD durchweg starke Gewinne; ihre Mitgliederzahl stieg von September 1922 bis September 1923 von knapp 225.000 auf 295.000. Im August 1923 schien eine politische Explosion unmittelbar bevorzustehen. Das fortschreitendesoziale Elend hatte eine Verzweiflungsstimmung erzeugt, die sich in den sogenannten «Cuno-Streiks» entlud. Die Freien Gewerkschaften bemühten sich, die Betriebe der Reichsdruckerei, die auch Papiergeld druckten, vor dem Ausstand zu bewahren, hatten damit aber keinen Erfolg. Einen Tag lang, am 10. August 1923, war die Notenpresse stillgelegt, und sofort trat ein fühlbarer Mangel an Papiergeld ein.
    Bis zu diesem Zeitpunkt hatten die Sozialdemokraten die Regierung Cuno toleriert. Der Widerstand des linken Parteiflügels gegen eine Zusammenarbeit mit der DVP war so stark, daß die Parteiführung keine Alternative zur weiteren Hinnahme des am weitesten rechts stehenden aller bisherigen Nachkriegskabinette sah. Dazu kam die Furcht, die SPD würde, wenn sie auf dem Höhepunkt der Krise Regierungsverantwortung übernahm und die Katastrophenpolitik des passiven Widerstands abbrach, vom «nationalen»

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