Geschichte des Westens
Kommunist, der von «Räuberrepublik» gesprochen hatte, eine Gefängnisstrafe von vier Wochen, während ein Angeklagter aus völkischen Kreisen, der das Schimpfwort «Judenrepublik» benutzt hatte, nur mit einer Geldstrafe von 70 Mark bedacht wurde.
Versuche, dem fanatischen Antisemitismus entgegenzuwirken, wie er sich erst in einer beispiellosen Hetzkampagne gegen Rathenau, dann in seiner Ermordung entladen hatte, waren vergeblich. Die Juden galten der extremen Rechten als Urheber der Niederlage Deutschlands im Weltkrieg, weil sie angeblich die deutschen Arbeiter systematisch mit pazifistischen, marxistischen oder bolschewistischen Ideen zersetzt oder sich auf Kosten des deutschen Volkes bereichert hatten. Sie wurden als Betreiber und Nutznießer von Revolution, Inflation und Erfüllungspolitik dargestellt. Sie dienten mithin als Sündenböcke für alles, worunter Deutschland seit dem November 1918 zu leiden hatte oder zu leiden glaubte.
Bei Studenten und Akademikern war der Antisemitismus besonders stark, weil viele von ihnen die Juden vor allem als Konkurrenten im Kampf um gehobene gesellschaftliche Positionen wahrnahmen. Daß die «marxistische» Arbeiterbewegung 1918 zur Regierungsmacht aufgestiegen war, empfanden werdende und fertige Akademiker vielfach als persönliche Kränkung. Ihr Anspruch auf die Führung Deutschlands wurde durch Kräfte in Frage gestellt, denen sie die dafür erforderliche geistige und moralische Eignung absprachen. Die Rolle von Juden in der politischen Linken reichte aus, um dem Gefühl des Statusverlustes und der Prestigeminderung eine antisemitische Wendung zu geben. Sich selbst sahen die völkischen Studenten und Jungakademiker in der Tradition der Befreiungskriege und vor allem Johann Gottlieb Fichtes, Ernst Moritz Arndts und des Turnvaters Jahn, bei denen sie fanden, was sie suchten: eine Auffassung vom ewig fortdauernden deutschen Volk, die sie umstandslos gegen die Juden als Träger eines «fremden Volkstums» und den angeblich von ihnen geprägten Staat von Weimar wendeten.
Rabiate Judenfeinde gab es nicht nur in antisemitischen Verbänden, sondern auch bei den monarchistischen Deutschnationalen, namentlich auf deren völkischem Flügel. In der «Konservativen Monatsschrift», dem Organ dieser Richtung, hatte der Reichstagsabgeordnete Wilhelm Henning im Juni 1922 einen Artikel veröffentlicht, in dem es unter anderem hieß, die «deutsche Ehre» sei «keine Schacherware für internationale Judenhände», und Rathenau und seine Hinterleute würden vom deutschen Volk zur Rechenschaft gezogen werden. Nach der Ermordung Rathenaus schien es der Parteiführung unter dem früheren preußischen Finanzminister Oskar Hergt angezeigt, einen Trennungsstrich zu den extremen völkischen Kräften zu ziehen: Der Parteiausschluß Hennings sollte den anderen bürgerlichen Parteien die Regierungsfähigkeit der DNVP beweisen. Die deutschnationale Reichstagsfraktion, der die endgültige Entscheidung überlassen wurde, begnügte sich mit dem Ausschluß Hennings aus den eigenen Reihen, hielt aber einen Parteiausschluß nicht für erforderlich. Diesen Schritt vollzogen Henning und zwei seiner Gesinnungsfreunde wenig später selbst. Im September 1922 gründeten sie die Deutschvölkische Arbeitsgemeinschaft, aus der im Dezember die Deutschvölkische Freiheitspartei entstand.
Zu einer Hochburg der neuen Partei wurde München, wo sich ihr der Kreisverein der Deutschnationalen anschloß. In der bayerischen Landeshauptstadt fanden die Deutschvölkischen ein besonders günstiges politisches Klima, freilich auch eine Konkurrenz vor, die sie an Haß auf Juden und «Marxisten» schlechterdings nicht übertreffen konnten: die von Adolf Hitler geführte Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei – diejenige Partei, die in ihrem Auftreten und ihren Kampfmethoden vielen zeitgenössischen Beobachtern als deutsche Kopie der italienischen Faschisten erschien. Die NSDAP kommentierte die Ermordung des Reichsaußenministers während einer Gedenkkundgebung der Münchner Sozialdemokraten in Flugblättern mit den Worten: «Der Rathenau ist leider tot. Es leben noch Ebert und Scheidemann.» Für die nach wie vor antisemitische DNVP hatte die Abspaltung ihres radikal völkischen Flügels mehr Vor- als Nachteile. Seit dem Herbst 1922 waren die Deutschnationalen ihrem wichtigsten Ziel ein Stück nähergekommen: der Einbeziehung in einen Bürgerblock, der eine Politik ohne und gegen die Sozialdemokraten
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