Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Geschichte des Westens

Geschichte des Westens

Titel: Geschichte des Westens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich August Winkler
Vom Netzwerk:
die der Niedergang der Produktion in der übrigen Welt seit 1920 für ihn bedeutet hatte. Die Inflation, die im Herbst 1922 in die Hyperinflation umschlug, war damit ihres wirtschaftlichen «Reizes» endgültig beraubt, was die Chancen einer Sanierung der Währungsverhältnisse objektiv erhöhte. Politisch aber war eine Sanierung nur vorstellbar bei einem engen Zusammenwirken von Unternehmerschaft und Gewerkschaften, von gemäßigten bürgerlichen Parteien und Sozialdemokratie.
    Große Teile der deutschen Unternehmerschaft verweigerten sich imHerbst 1922 noch dieser Erkenntnis, darunter auch Hugo Stinnes, der die Inflation für den Ausbau eines riesigen Industrieimperiums genutzt hatte und seit 1920 auch ein Reichstagsmandat der DVP innehatte. Seine Vorstellungen von Sanierung trug er ausgerechnet am 9. November 1922, dem vierten Jahrestag der Revolution, im Vorläufigen Reichswirtschaftsrat, einem in der Reichsverfassung verankerten berufsständischen Quasiparlament ohne Entscheidungsbefugnis, vor und löste damit auf der Linken einen Sturm der Entrüstung aus: Die deutschen Arbeiter sollten für die Dauer von 10 bis 15 Jahren ohne Lohnzuschlag täglich zwei Stunden länger arbeiten. So wie Stinnes dachte der schwerindustrielle Flügel der DVP, nicht aber die Partei insgesamt und ihr Vorsitzender Gustav Stresemann. Dieser war mittlerweile von der unabdingbaren Notwendigkeit einer Zusammenarbeit zwischen den gemäßigten Kräften im Bürgertum und in der Arbeiterschaft überzeugt und stimmte darum am 26. Oktober dem Vorschlag von Reichskanzler Wirth zu, eine Kommission aus Regierungsparteien und Deutscher Volkspartei zu bilden und in deren Rahmen eine gemeinsame Plattform für die anstehenden wirtschaftspolitischen Entscheidungen, namentlich in der Reparationsfrage, zu erarbeiten.
    Die DVP entsandte den Elektroindustriellen Hans von Raumer, einen Architekten der «Zentralarbeitsgemeinschaft» vom November 1918, in die Kommission, die SPD ihren theoretischen Kopf Rudolf Hilferding, den Autor des «Finanzkapital» von 1910. Beide wirkten entscheidend an der Verständigung auf einen Maßnahmenkatalog mit, der der Regierung als Material für ihre reparationspolitische Note vom 13. November 1922 diente. Die eigentliche Sensation der Kommissionsvorschläge war ein Kompromiß in der umstrittenen Arbeitszeitfrage: Der Achtstundentag sollte der «Normalarbeitstag» bleiben, «gesetzlich begrenzte Ausnahmen auf tariflichem oder behördlichem Wege» aber waren zugelassen. Die Kommission stellte damit die wichtigste soziale Errungenschaft des November 1918 zwar nicht grundsätzlich zur Disposition, empfahl aber doch, zumindest für Teilbereiche der Wirtschaft, eine zeitweilige Mehrarbeit, um auf diese Weise eine Sanierung der Finanzen, den wirtschaftlichen Wiederaufbau Deutschlands und einen friedlichen Ausgleich mit seinen Nachbarn zu ermöglichen.
    Ganz in diesem Sinn war die reparationspolitische Note der Regierung Wirth vom 13. November 1922 gehalten. Sie stellte, wie von denAlliierten gefordert, großangelegte Stützungsmaßnahmen der Reichsbank zugunsten der Mark in Aussicht: Falls eine internationale Anleihe 500 Millionen Goldmark erbringe, werde die Reichsbank sich mit einem gleich hohen Betrag an der Aktion beteiligen. Dieser Note stimmten nicht nur die Vorsitzenden der Koalitionsfraktionen SPD, Zentrum und DDP, sondern auch die Vertreter der DVP zu.
    Das Fundament einer Großen Koalition schien damit gelegt. Aber nur einen Tag später erwies sich dieser Eindruck als Trugbild. Am 14. November 1922 entschied sich die Fraktion der Vereinigten Sozialdemokratischen Partei Deutschlands mit überwältigender Mehrheit gegen eine Große Koalition. Für ein solches Bündnis hatte sich vor allem der preußische Ministerpräsident Otto Braun eingesetzt, aber er stand auf verlorenem Posten. Die Parteiführung wollte es so kurz nach der Wiedervereinigung der beiden sozialdemokratischen Parteien nicht auf eine Zerreißprobe mit den ehemaligen Unabhängigen ankommen lassen, von denen die meisten, anders als Hilferding, ein Zusammengehen mit der DVP, der «Unternehmerpartei» schlechthin, nach wie vor strikt ablehnten.
    Einer Vereinbarung der Mittelparteien gemäß trat Joseph Wirth noch am gleichen Tag als Reichskanzler zurück. Zu seinem Nachfolger ernannte der Reichspräsident am 22. November den parteilosen Generaldirektor der Hamburg-Amerika-Linie, Wilhelm Cuno, einen 1876 im thüringischen Suhl geborenen Katholiken,

Weitere Kostenlose Bücher