Geschichte des Westens
Unterstützung der Separatisten einzustellen.
Die Zeichen für eine allmähliche innere und äußere Entspannung standen also günstig, als in Berlin eine neue Regierungskrise ausbrach. Am 22. November brachte die SPD, allen Warnungen von Reichspräsident Ebert zum Trotz, einen Mißtrauensantrag gegen das bürgerliche Minderheitskabinett Stresemann ein, den sie damit begründete, daß die Reichsregierung gegen Sachsen und Thüringen in schärfster Form vorgegangen sei, gegen die verfassungswidrigen Zustände in Bayern aber nichts Entscheidendes getan habe. Der Antrag war so formuliert, daß die Deutschnationalen, von deren Haltung alles abhing, ihm nicht zustimmen konnten. Den Sozialdemokraten ging es also gar nicht um den Sturz Stresemanns, sondern um eine politische Demonstration, die den linken Parteiflügel besänftigen sollte. Der Kanzler aber war nicht bereit, eine weitere Schwächung seiner Position hinzunehmen, und beantwortete den Vorstoß der SPD mit der Vertrauensfrage. Mit 231 gegen 156 Stimmen bei 7 Enthaltungen lehnte der Reichstag am 23. November den entsprechenden Antrag der Regierungsparteien ab. Erstmals in der Geschichte der deutschen Republik war damit, wie Stresemann anschließend vor ausländischen Pressekorrespondenten erklärte, eine Regierung «in offener Feldschlacht» gefallen.
Die Bildung einer Nachfolgeregierung erwies sich als überausschwierig: Sie nahm eine volle Woche in Anspruch. Am 30. November 1923 trat schließlich der Partei- und Fraktionsvorsitzende des Zentrums, der aus Köln stammende Jurist Wilhelm Marx, die Nachfolge Stresemanns an. Der letztere übernahm in der neuen Regierung wieder das Amt des Außenministers, das er schon seit August 1923 innehatte und bis zu seinem Tode am 3. Oktober 1929 behalten sollte. Das bürgerliche Minderheitskabinett Marx war auf die Tolerierung durch die Partei angewiesen, die die Vorgängerregierung gestürzt hatte: die Sozialdemokraten. Diese verhalfen unter massivem Druck des Reichspräsidenten, der hinter den Kulissen mit der Anwendung des Artikels 48 drohte, dem Kabinett Marx am 8. Dezember sogar zu einem Ermächtigungsgesetz. Es war bis zum 14. Februar 1924 befristet und gab der Regierung die Möglichkeit, dringende Maßnahmen auf dem Verordnungsweg zu ergreifen. Davon betroffen war auch die Arbeitszeit, die unbedingt einer Neuregelung bedurfte, da die bisherigen Regelungen, die mehrfach verlängerten Demobilmachungsverordnungen der Revolutionszeit, am 17. November ausgelaufen waren und seitdem von Rechts wegen überall dort, wo die Arbeitszeit nicht tariflich vereinbart worden war, wieder die Arbeitszeit der Vorkriegsjahre galt.
In dem Vierteljahr, in dem das Ermächtigungsgesetz in Kraft war, vollzogen sich in Deutschland einschneidende Veränderungen. In großen Bereichen der Wirtschaft war nunmehr, obwohl der Achtstundentag als Normalarbeitstag grundsätzlich fortbestand, der Zehnstundentag gesetzlich erlaubt. Die Freien Gewerkschaften beantworteten diese Niederlage im Januar 1924 mit der Aufkündigung der Zentralarbeitsgemeinschaft vom November 1918, was aber kaum mehr als ein symbolischer Protest war. Die Beamtengehälter wurden im Dezember 1923 auf einem Niveau festgesetzt, das weit unter dem Vorkriegsstand lag. Am 14. Februar 1924, dem Tag, an dem das Ermächtigungsgesetz auslief, wurde durch eine Steuernotverordnung der Abbau der Zwangswirtschaft auf dem Wohnungsmarkt eingeleitet: ein wichtiger Schritt zur Überwindung des «Kriegssozialismus», der den Krieg um mehr als fünf Jahre überdauert hatte.
Dieselbe Verordnung regelte auch die heiß umstrittene Aufwertung von Geldforderungen aus bestimmten, durch die Inflation vernichteten Vermögensanlagen, darunter Sparkassenguthaben, Hypotheken, Pfandbriefe und Lebensversicherungen. Der einheitliche Aufwertungssatz von15 Prozent des Goldmarkbetrages enthielt das Eingeständnis, daß der von Finanzminister Luther bislang verfochtene Grundsatz «Mark gleich Mark» dem Gerechtigkeitsempfinden eklatant zuwiderlief. Die Tilgung der Aufwertungsschulden wurde allerdings bis 1932, der Kriegsanleihen sogar bis zur endgültigen Regelung der Reparationslasten, also auf unbestimmte Zeit, vertagt. Der erbitterte Protest von Millionen Betroffener vermochte am Inhalt der Verordnung nichts mehr zu ändern. Um die neue Währung nicht aufs Spiel zu setzen, konnte die Regierung Marx nicht anders handeln. Die Sparer und Zeichner von Kriegsanleihen waren damit die eigentlichen Opfer
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