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Geschichte des Westens

Geschichte des Westens

Titel: Geschichte des Westens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich August Winkler
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1. April 1924. Das Volksgericht München sprach General Ludendorff von der Anklage des Hochverrats frei. Fünf andere Beteiligte, darunter Ernst Röhm, der Organisator der nationalsozialistischen «Sturmabteilungen», der SA, wurden zu drei Monaten Festungshaft und 100 Mark Geldstrafe mit Bewährung, Hitler selbst wurde zusammen mit drei Mitverschwörern zu fünf Jahren Festung und 200 Mark Geldstrafe verurteilt. Nach Verbüßung von sechs Monaten stand auch den zuletzt Genannten eine Bewährungsfrist in Aussicht. (Tatsächlich wurde Hitler bereits zu Weihnachten 1924 aus der Festungshaft in Landsberg, die er zur Abfassung seines Bekenntnisbuches «Mein Kampf» nutzte, entlassen.) Allen Angeklagten hielt das Gericht zugute, sie hätten sich bei «ihrem Tun von rein vaterländischem Geiste und dem edelsten, selbstlosen Willen» leiten lassen und nach bestem Wissen und Gewissen geglaubt, «daß sie zur Rettung des Vaterlandes handeln mußten, und daß sie dasselbe taten, was kurz zuvor die Absicht der leitenden bayerischen Männer war». Moralisch kamen das Urteil und seine Begründung einem Freispruch gleich, und so wurden sie auch in Bayern und Deutschland verstanden.
    Die Erregung über das Urteil im Hitler-Prozeß hatte sich noch nicht gelegt, als am 9. April 1924 ein Ereignis für Schlagzeilen sorgte, das die weitere Entwicklung der Weimarer Republik nachhaltig prägen sollte: die Veröffentlichung des Gutachtens der im Januar eingesetzten, von dem amerikanischen Bankier Charles Dawes geleiteten Expertenkommission zur Reparationsfrage. Eine Gesamthöhe der von Deutschland zu erbringenden Leistungen nannte der Bericht nicht, seine Verfasser gingen aber offensichtlich davon aus, daß die im Londoner Ultimatum vom Mai 1921 aufgestellte Forderung von 132 Milliarden Goldmark die deutsche Leistungskraft überstieg. Um die Währung nicht zu gefährden, sollte ein von den Gläubigerstaaten berufener Reparationsagent für den «Transferschutz», einen den Außenwert der Mark berücksichtigenden Zahlungsmodus, sorgen. Die Jahresraten, die Annuitäten, begannen mit einer Milliarde Goldmark, um dann innerhalb von fünf Jahren auf 2,5 Milliarden anzusteigen. Die Reichsbahn wurde, um dem französischen Verlangen nach Garantien zugenügen, in eine Gesellschaft verwandelt, die mit bestimmten Obligationen belastet wurde. Ihrem Aufsichtsrat gehörten (wie auch dem Generalrat der Reichsbank) Vertreter der Gläubigerstaaten an. Als weitere Sicherungen sah die Kommission die Verpfändung einiger Reichseinnahmen und eine verzinsliche Hypothek der deutschen Industrie in Höhe von 5 Milliarden Mark vor.
    Die Beschränkungen der deutschen Souveränität, wie sie das Dawes-Gutachten vorsah, waren einschneidend und doch sehr viel leichter zu ertragen als die territorialen Garantien, die Frankreich und Belgien sich im Januar 1923 durch die Ruhrbesetzung genommen hatten. Der Dawes-Plan enthielt überdies eine für die deutsche Wirtschaft höchst erfreuliche Perspektive: eine Auslandsanleihe von 800 Millionen Mark, die den Grundstock der neu zu schaffenden Notenbank bilden sollte. Aus dem Erlös waren zunächst ausschließlich inländische Zahlungen an die Alliierten wie Sachlieferungen und Besatzungskosten zu finanzieren. Dahinter stand jedoch die Aussicht auf künftige amerikanische Kredite und Investitionen – eine Aussicht, die stimulierend wirkte. Deutschland, schon vor 1914 eines der wichtigsten Abnehmerländer amerikanischer Exporte, durfte darauf setzen, daß die Vereinigten Staaten die Chancen erkannt hatten, die mit einem wirtschaftlichen Engagement in dem kapitalbedürftigen, aber leistungsfähigen Land verbunden waren.
    Der Dawes-Plan war Amerikas Beitrag zur Festigung der deutschen Verhältnisse: ein Akt, mit dem die stärkste Wirtschaftsmacht der Welt endlich jener weltpolitischen Verantwortung gerecht zu werden versuchte, die die «Isolationisten» 1919 mit dem Nein des Senats zum Völkerbund so erfolgreich geleugnet hatten. Einen anderen Beitrag der Stabilisierung Deutschlands leistete zur gleichen Zeit auf ihre Weise die andere «Flügelmacht», die Sowjetunion. Am 21. Januar 1924 war der seit langem schwer kranke Staatsgründer, Wladimir Iljitsch Lenin, gestorben. (An den Entscheidungsprozessen, die zum «deutschen Oktober» führten, hatte er schon keinen Anteil mehr gehabt.) Zum neuen «starken Mann» wurde jener Funktionär, dem Lenin wegen seiner Grobheit und Launenhaftigkeit tief mißtraute und dessen

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