Geschichte des Westens
Ablösung als Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion er in einem Nachtrag zu seinem Testament vom 4. Januar 1923 den Genossen nachdrücklich empfohlen hatte: Josef Wissarionowitsch Stalin. In dem Maß, wie Stalins Position sich festigte, ließ der Drang zur Weltrevolutionin Moskau nach. In den Vordergrund rückte nunmehr das, was Stalin den «Aufbau des Sozialismus in
einem
Lande», nämlich der Sowjetunion, nannte. Improvisierte Umsturzversuche, wie sie die Komintern zuletzt im Herbst 1923 in Deutschland unternommen hatte, vertrugen sich nicht mit dieser von Stalin 1925 verkündeten, aber schon vorher befolgten Devise.
Zum weltpolitischen Szenenwechsel von 1923/24 gehörten auch die politischen Veränderungen in London und Paris. In Großbritannien hatten bei den Unterhauswahlen vom 6. Dezember 1923 die Labour Party und die Liberalen über die Konservativen gesiegt. Im Januar 1924 erhielt das Land in Ramsay MacDonald seinen ersten Labour-Regierungschef, der an der Spitze eines von den Liberalen tolerierten Kabinetts stand. In die kurze, nur neuneinhalb Monate währende Amtszeit dieser Regierung fiel die Londoner Konferenz vom Juli und August 1924, auf der die Alliierten den Dawes-Plan annahmen und zu der anschließend auch Deutschland eingeladen wurde. Der ausgleichende Einfluß MacDonalds, der in Personalunion auch Außenminister war, trug wesentlich zum erfolgreichen Verlauf der Verhandlungen und ihrem vertraglichen Niederschlag, dem Londoner Abkommen, bei.
In Frankreich verlor am 11. Mai 1924 der von Poincaré geführte «Bloc national» die Mehrheit an das «Cartel des gauches», das Wahlbündnis der Sozialisten und der bürgerlichen Radikalsozialisten. Ministerpräsident und Außenminister wurde der von den Sozialisten tolerierte Radikalsozialist Édouard Herriot, ein Freund der deutschen idealistischen Philosophie. Von der neuen Regierung durfte Deutschland mehr Entgegenkommen erwarten als von den vorangegangenen rechten Kabinetten.
Frankreichs Versuch, die Nachkriegsordnung gewaltsam zu seinen Gunsten zu revidieren, war, soviel ließ sich schon im Frühjahr 1924 erkennen, gescheitert. Deutschland ging aus dem Ruhrkampf wirtschaftlich geschwächt, aber dank des amerikanischen Eingreifens politisch gestärkt hervor. Die Nachkriegszeit war in den Monaten zwischen November 1923 und April 1924 zu Ende gegangen. Eine relative Stabilisierung in Deutschland und in den Beziehungen zwischen den wichtigsten Staaten Europas war unverkennbar.[ 16 ]
Rechts versus links:
Kultur und Gesellschaft in der Weimarer Republik
Eine gewisse Stabilisierung der wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse war notwendig, damit sich das entfalten konnte, was man später, im verklärenden Rückblick der dreißiger Jahre, die «Golden Twenties» genannt hat. In den USA begannen sie mit der Rückkehr zur Prosperität seit 1922 früher als in Europa und namentlich in Deutschland, das erst seit der Jahreswende 1923/24 wieder so etwas wie festen Boden unter den Füßen spürte. Mit den «goldenen zwanziger Jahren» assoziieren wir bis heute den weltweiten Siegeszug des amerikanischen Jazz, des Charleston und des Shimmy, den Tänzen von Josephine Baker und den Filmen von Charlie Chaplin; wir denken an die Bildmontagen der Dadaisten und die Kunst des «art déco», an die gezielten Tabuverletzungen gesellschaftskritischer Maler wie George Grosz und der Schriftsteller der «révolution surréaliste» wie André Breton und Louis Aragon, an Massenkonsum, offensive Werbung und funktionales Bauen, an die Glanzzeit der Arbeiterbewegungskultur und den Durchbruch zu einer neuen, freieren Sexualmoral.
Die deutsche Ausformung des Geistes der zwanziger Jahre fassen Historiker seit langem im Begriff «Weimar culture» zusammen. Doch die unaufhörliche Infragestellung des Hergebrachten, die von rechts als Werk der Zersetzung wahrgenommen wurde, hatte lange vor 1918 begonnen: Der «Weimarer Stil» war, wie Peter Gay bemerkt hat, vor Weimar entstanden. Das gilt von der Revolution des Expressionismus in Malerei, Literatur und Theater, die im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts stattgefunden hat, und von dem nicht minder revolutionären Durchbruch zur Atonalität in der Musik. Es gilt in gleicher Weise von den großen Revolutionen in der Wissenschaft, der Psychoanalyse Sigmund Freuds, der Relativitätstheorie Albert Einsteins und der Soziologie Max Webers: Die jeweiligen Pionierstudien stammen aus der Zeit vor 1914.
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