Geschichte des Westens
der Inflation.
Es waren nicht die Mittelschichten insgesamt, die durch die Geldentwertung ruiniert oder doch nachhaltig geschwächt wurden, wohl aber erhebliche Teile derselben, nämlich jene, die ihren Lebensunterhalt aus Ersparnissen oder der Tilgung und Verzinsung von Wertpapieren zu bestreiten gewohnt waren. Nutznießer waren hingegen die Haus- und Grundbesitzer, die nun schuldenfrei waren und von der allgemeinen Privilegierung von Sachvermögen profitierten. Die eigentlichen Inflationsgewinner waren die meist hochverschuldeten Großgrundbesitzer, die durch die Geldentwertung ihrer meist hohen Schulden ledig wurden, und die Besitzer großer industrieller Ver mögen. Der Staat war materiell ein Gewinner und immateriell ein Verlierer der Inflation: Die Geldentwertung half ihm, weil sie als Schuldenbefreiung wirkte, und sie schadete ihm, weil sie das Vertrauen in ihn nachhaltig erschütterte. Es war die Republik, gegen die sich das Ressentiment der Enttäuschten richtete, und nicht die Monarchie, obwohl
sie
den Prozeß der Geldentwertung ausgelöst hatte: Fünf Jahre nach Kriegsende begann das Kaiserreich bereits wieder, vielen Deutschen in verklärtem Licht zu erscheinen.
Die Inflation hatte nivellierende Wirkungen: Die Einkommensabstände sowohl zwischen hohen und niederen Beamten wie zwischen der Gesamtheit der Beamten und der Arbeiterschaft waren zusammengeschrumpft. Gewinner der Inflation aber waren die Arbeiter nicht: Die Realwochenlöhne lagen im Dezember 1923 bei gerade einmal 70 Prozent der Vorkriegszeit. Dazu kam eine hohe Arbeitslosigkeit. Die Gewerkschaften mußten für ihre staatstragende Rolle während des Ruhrkampfes einen hohen Preis bezahlen: Die Mitgliederzahlen des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes sanken von 7,7 Millionen im September 1923 auf 4,8 Millionen im März 1924. Allesdeutete darauf hin, daß das proletarische Protestpotenzial zu Beginn des Jahres 1924 um vieles größer war als ein Jahr zuvor.
Zur gleichen Zeit gab es aber auch Zeichen einer allmählichen politischen Beruhigung. Seit Ende November 1923 wurde im Ruhrgebiet wieder normal gearbeitet. Die Stabilisierung der wirtschaftlichen Verhältnisse an Rhein und Ruhr entzog dem Projekt eines mit dem übrigen Reich locker verbundenen rheinischen Bundesstaates, wie es Adenauer, in Abstimmung mit Stinnes, im Spätjahr 1923 betrieben hatte, fortschreitend den Boden. Im Januar 1924 erteilte Außenminister Stresemann dem Vorhaben des Kölner Oberbürgermeisters eine scharfe Absage. Daraufhin legte Adenauer den Plan ad acta.
Am 29. Februar 1924 wurde der militärische Ausnahmezustand auf Drängen Seeckts aufgehoben. Der Chef der Heeresleitung wollte damit verhindern, daß sich die Autorität der Reichswehr im Kleinkrieg mit Zivilbehörden, vor allem in Sachsen und Thüringen, aber auch in Preußen, abnutzte. Seeckt fürchtete überdies eine Unterwanderung durch rechtsradikale Wehrverbände. Die innere Konsolidierung der Reichswehr hatte für ihn Vorrang vor einer Machtausübung, die sich politisch nicht auszahlte.
Strittig war zunächst gewesen, ob die Verbote von KPD, NSDAP und Deutschvölkischer Freiheitspartei, die Seeckt als Inhaber der vollziehenden Gewalt am 23. November 1923 verhängt hatte, bestehen bleiben sollten oder nicht. Seeckt war für die Aufrechterhaltung, Severing für ihre Aufhebung. Der preußische Innenminister konnte sich im wesentlichen durchsetzen. Mit dem militärischen Ausnahmezustand wurden auch die Parteiverbote aufgehoben. Öffentliche Versammlungen unter freiem Himmel blieben aber vorerst im Regelfall verboten; der zivile Ausnahmezustand wurde erst am 25. Oktober 1924 aufgehoben.
Im Februar 1924 gelang auch die offizielle Beilegung des Konflikts zwischen dem Reich und Bayern. Künftig sollte, entsprechend einer Verordnung vom 14. Februar, der Reichswehrkommandant im Freistaat nur im Benehmen mit der Landesregierung abgerufen werden können. Die Eidesformel von Reichswehr und Reichsmarine wurde durch eine Verpflichtung auf die Verfassung des jeweiligen Heimatstaates ergänzt. Damit war die Inpflichtnahme der bayerischen Reichswehrtruppen durch die Regierung in München erledigt. Vier Tage später traten Kahr als Generalstaatskommissar und Lossow als bayerischerLandeskommandant zurück. Irgendwelche strafrechtlichen Folgen hatte ihr reichs- und verfassungsfeindliches Verhalten im Herbst 1923 nicht.
Die Urteile gegen die Putschisten vom 8. und 9. November 1923 ergingen am
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