Geschichte des Westens
Selbst die «neue Sachlichkeit», die nach 1923 den Expressionismus aus allen Zweigen der Kunst verdrängte, ließ sich bis in die Vorkriegszeit zurückverfolgen. Walter Gropius, der 1926 mit dem Gebäude des Bauhauses in Dessau ein ebenso bewundertes wie befehdetes Modell der neuen funktionalen Ästhetik schuf, hatte seinen Stil schon vor dem Ersten Weltkrieg entwickelt. Was die Kultur vonWeimar ausmachte, war also weitgehend bereits da, als die Republik entstand. Aber der politische Regimewechsel wirkte befreiend: den Neuerern standen Möglichkeiten offen, die sie unter dem alten System nicht gehabt hatten, und sie erzielten eine Breitenwirkung, die «Weimar» rückblickend als Großexperiment der klassischen Moderne erscheinen läßt.
Die europäische Metropole der zwanziger Jahre war, was die Kultur im weitesten Sinn betraf, Berlin. Hier schien die Moderne nach 1918 förmlich zu explodieren; hierhin zog es immer wieder die künstlerische Avantgarde Europas und Amerikas, sofern sie nicht, wie vor 1914, Paris bevorzugte; hier artikulierte sich zuerst, was dann als Trend galt. Juden spielten im Kulturbetrieb der deutschen Hauptstadt, in der Presse, in Film, Theater und Kabarett, eine führende Rolle, und das machte das neue Berlin zum Inbegriff dessen, was das konservative Deutschland am Staat von Weimar haßte. Intellektuelle Juden waren meist liberal oder standen links und nicht selten links außen; rechts konnten sie schon deswegen nicht sein, weil die Rechte antisemitisch war. Antisemitismus ging fast immer auch einher mit Antimodernismus, Antiurbanismus und Antiintellektualismus. Das machte «Weimar culture» zu einem von Anfang an gefährdeten Elitenprojekt, zu einer Kultur auf Abruf.
Am Schicksal des Bauhauses, dieser Hochburg moderner Architektur, ließ sich das Fortschreiten der kulturpolitischen Reaktion in Deutschland ablesen. Seinen ursprünglichen Sitz in Weimar hatte das Bauhaus 1925 verlassen müssen, nachdem der thüringische Landtag im Herbst 1924 die Mittel für die Einrichtung um die Hälfte gekürzt und damit die Weiterarbeit faktisch unmöglich gemacht hatte. (In Thüringen regierte seit dem Frühjahr 1924 ein bürgerliches Beamtenkabinett mit Duldung der äußersten Rechten in Gestalt des «Völkisch-Sozialen Blocks».) Aber auch an der neuen Wirkungsstätte, in der Hauptstadt von Anhalt, Dessau, wo die Sozialdemokraten von 1918 bis zum Mai 1932 fast ununterbrochen den Ministerpräsidenten stellten, war das Bauhaus den Kräften der Rechten ein Dorn im Auge. Als 1929 eine von Walter Gropius entworfene Siedlung für die Arbeiter und Angestellten der Junkers-Werke in Dessau-Törten eingeweiht wurde, protestierten Nationalsozialisten und Deutschnationale gegen die «Marokkohütten» der «Negersiedlung». Anlaß zu diesen Attacken war die Tatsache, daß die Häuser keine «deutschen» Spitzdächer hatten,sondern, wie für die Architektur der «neuen Sachlichkeit» typisch, Flachbauten waren.
Es gab anspruchsvollere Formen des Kampfes gegen den Geist der neuen Zeit. Die intellektuelle Rechte sah sich, in Deutschland nicht anders als überall in Europa, von einem nivellierenden Kollektivismus bedroht, der die Masse über die Persönlichkeit triumphieren ließ. 1927, drei Jahre bevor der spanische Philosoph José Ortega y Gasset in seinem «Aufstand der Massen» die Bedrohung der Kultur durch den «Massenmenschen», die «geistige Plebs», ein neues Barbarentum, beschrieb, veröffentlichte Martin Heidegger sein philosophisches Hauptwerk «Sein und Zeit». Darin sprach er von einer «Diktatur des Man». «Das Man ist überall dabei, doch so, daß es sich auch schon immer davon geschlichen hat, wo das Dasein auf Entscheidung drängt. Weil das Man jedoch alles Urteilen und Entscheiden vorgibt, nimmt es dem jeweiligen Dasein die Verantwortlichkeit ab. Das Man kann es sich gleichsam leisten, daß ‹man› sich ständig auf es beruft. Es kann am leichtesten alles verantworten, weil keiner es ist, der für etwas einzustehen braucht. Das Man ‹war› es immer, und doch kann gesagt werden, ‹keiner› ist es gewesen. In der Alltäglichkeit des Daseins wird das meiste durch das, von dem wir sagen müssen, keiner war es.»
Ebenso gängig wie das Klischee vom erdrückenden Kollektivismus war die These vom zersetzenden Pluralismus, der das parlamentarische System deformiere und den Staat auflöse. So behauptete der Staatsrechtler Carl Schmitt 1926 im Vorwort zur zweiten Auflage seiner 1923 erschienenen
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