Geschichte des Westens
Schrift «Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus», das Parlament sei heute nicht mehr die Stätte des öffentlichen und freien Austausches von Argumenten, sondern nur noch der Ort, wo organisierte Interessen aufeinanderstößen. An die Stelle des rationalen Arguments sei die ideologische Polarisierung getreten, und infolgedessen gehe dem heutigen parlamentarischen System die Fähigkeit ab, politische Einheit hervorzubringen. «In manchen Staaten hat es der Parlamentarismus schon dahin gebracht, daß sich alle öffentliche Angelegenheiten in Beute- und Kompromißobjekte von Parteien und Gefolgschaften verwandeln und die Politik, weit davon entfernt, die Angelegenheit einer Elite zu sein, zu dem ziemlich verachteten Geschäft einer ziemlich verachteten Klasse von Menschen geworden ist.»
In Deutschland wurde die Kritik an der parlamentarischen Demokratie, der «Herrschaft der Minderwertigen», als die sie der jungkonservative Publizist Edgar Jung im Titel eines vielgelesenen Buches aus dem Jahr 1927 denunzierte, begünstigt durch die häufigen Regierungskrisen und Regierungswechsel, in denen das Erbe des monarchischen Konstitutionalismus nachwirkte: Die Parteien sahen, auch wenn sie selber gerade Minister stellten, in der Regierung ein fremdes Gegenüber, wie es die Reichsleitung der Kaiserzeit gewesen war, und nicht, wie es der Logik einer parlamentarischen Demokratie entsprochen hätte, den Exekutivausschuß der parlamentarischen Mehrheit, den es gegenüber der Opposition zu stützen und zu verteidigen galt. Aber Zweifel an der Funktionstüchtigkeit und Zeitgemäßheit des parlamentarischen Systems beschränkten sich nicht auf Deutschland und andere junge, meist erst nach 1918 entstandene Demokratien. Es gab diese Zweifel auch in alten Demokratien wie Frankreich und England, wo sie sich, wie wir noch sehen werden, etwas später als in Mitteleuropa, unter dem Eindruck der Weltwirtschaftskrise nach 1929, ausbreiteten und radikalisierten. Und hier wie dort stellten die Kritiker der angeblichen Entartung des parlamentarischen Systems ein Idealbild gegenüber, dem die Wirklichkeit nie entsprochen hatte: Wenn je ein Regime die Kennzeichnung als «government by corruption» verdient hat, war es der frühe britische Parlamentarismus der Ära Walpole in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts.
Spezifisch deutsch war hingegen eine andere Form der ideologischen Bewältigung von Niederlage und Nachkriegskrise: die Renaissance des Reichsmythos. Den Auftakt bildete ein 1923 veröffentlichtes Buch von Arthur Moeller van den Bruck mit dem programmatischen Titel «Das dritte Reich», mit dem auch die politische Karriere dieses, auf einen italienischen Theologen des 12. Jahrhunderts, Joachim von Fiore, zurückgehenden Begriffs begann. Nach dem ersten, dem Heiligen Römischen Reich deutscher Nation und dem zweiten, von Bismarck geschaffenen kleindeutschen Reich, das der Verfasser als unvollkommenes «Zwischenreich» einstufte, sollte das «Dritte Reich» der Deutschen wieder großdeutsch sein, also Österreich mit einschließen. Moeller bezeichnete den deutschen Nationalismus als «Streiter für das Endreich»: «Es ist immer verheißen. Und es wird niemals erfüllt. Es ist das Vollkommene, das nur im Unvollkommenen erreicht wird … Es gibt nur Ein Reich, wie es nur Eine Kirche gibt. Was sonstdiesen Namen beansprucht, das ist Staat, oder das ist Gemeinde oder Sekte. Es gibt nur Das Reich.»
Das Reich der Deutschen, die Schutzmacht der lateinischen Christenheit, war von alters her mit Heilserwartungen verknüpft. Dem Reichsmythos zufolge war das Heilige Römische Reich identisch mit dem christlich gewordenen Imperium Romanum und damit der «Katechon» – jene Kraft, die dem pseudo-paulinischen zweiten Brief an die Thessalonicher zufolge die Herrschaft des Antichrist aufhielt. An der Verbreitung des Reichsgedankens beteiligten sich nach 1918 Wissenschaftler und Schriftsteller aus dem Kreis um den Dichter Stefan George, obenan George selbst, katholische Geschichtsdenker, die Autoren der «Konservativen Revolution», die um 1930 maßgebenden Einfluß auf die öffentliche Meinung erlangten, und nicht zuletzt die Nationalsozialisten. Aus dem Reichsmythos ergab sich eine historische Sendung der Deutschen: der Auftrag, eine führende Rolle im europäischen Abwehrkampf gegen den östlichen Bolschewismus und die westliche Demokratie zu übernehmen.
Wie schon manche Wortführer der «Ideen von 1914», so versuchten
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