Geschichte des Westens
finstere Torheiten. Wir mußten es erleben, daß München in Deutschland und darüber hinaus als Hort der Reaktion, als Sitz aller Verstocktheit und Widerspenstigkeit gegen den Willen der Zeit verschrien war, mußten hören, daß man es eine dumme, die eigentlich dumme Stadt nannte.»
Thomas Mann hoffte, Besserung dadurch zu bewirken, daß er die Dinge beim Namen nannte. Ähnlich dachten die akademischen Verteidiger der Republik, die freilich nur eine Minderheit der deutschen Professorenschaft bildeten. Innerhalb dieser Minderheit überwogen die «Vernunftrepublikaner», die sich erst nach reiflicher Überlegung von der Monarchie abgewandt und auf den Boden der neuen staatlichen Verhältnisse gestellt hatten – Gelehrte wie der evangelische Theologe Adolf von Harnack, der Staatsrechtler Gerhard Anschütz oder der Historiker Friedrich Meinecke. Der zuletzt Genannte erinnerte Anfang 1925 auf einer Veranstaltung des Demokratischen Studentenbundes in Berlin an das Gesetz, nach dem Weimar angetreten war. «Die Republik ist das große Ventil für den Klassenkampf zwischen Arbeiterschaft und Bürgertum, es ist die Staatsform des sozialen Friedens zwischen ihnen … Der soziale Unfrieden besteht nicht mehr zwischen Arbeiterschaft und Bürgertum überhaupt, sondern der Riß hat sich nach rechts verschoben und geht mitten durch das Bürgertum selbst hindurch.»
Meinecke hätte auch sagen können, der Riß habe sich nach rechts
und
nach links verschoben und gehe durch Bürgertum und Arbeiterschaft mitten hindurch. Denn weniger als je zuvor stimmten die politischen Trennlinien mit den gesellschaftlichen überein. Zwischen den bürgerlichen «Vernunftrepublikanern» und der extremen Rechten klaffte ein Abgrund, aber dasselbe galt für das Verhältnis zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten. Beide Arbeiterparteien benutzten teilweise noch dieselben Begriffe, verstanden aber darunter höchst Unterschiedliches. Klassenkampf etwa hieß für die Kommunisten Zuspitzung der sozialen Konflikte mit dem Endziel der proletarischen Revolution, für Sozialdemokraten und Freie Gewerkschaften dagegen pluralistische Interessenpolitik im Sinne der Arbeitnehmer.
In der deutschen Gesellschaft der Weimarer Republik gaben wie in anderen europäischen Nachkriegsgesellschaften Bürgertum und Adelsehr viel weniger den Ton an als vor 1914. Die Nachkriegsgesellschaften waren «proletarischer» als die Vorkriegsgesellschaften. In Deutschland aber war der materielle Niedergang breiter bürgerlicher Schichten infolge der Inflation besonders augenfällig. Die Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage ging einher mit einer tiefen Erschütterung des Lebensgefühls, dem fast alles abhanden gekommen war, was früher Sicherheit verbürgt hatte: ein bescheidenes Vermögen, die Berechenbarkeit der eigenen Zukunftsaussichten und jener der nächsten Generation, das Vertrauen in die überkommenen Ordnungen und ganz besonders in den Staat. Aus dem Gefühl der Bedrohung von «unten» erwuchs eine Abwehrmentalität, die den Klassencharakter der Gesellschaft noch verstärkte. Gymnasien und Universitäten blieben Klasseneinrichtungen, in die kaum eindringen konnte, wer aus der Arbeiterschaft kam. «Klassenjustiz» war nicht nur ein polemisches Schlagwort von links, sondern eine gesellschaftliche und politische Realität. Ein gegen die Sozialdemokratie gerichteter «Bürgerblock» war ein Ziel, für das sich in allen bürgerlichen Parteien, mit der bedingten Ausnahme der DDP, starke Kräfte einsetzten.
Doch nach dem Ende des turbulenten Nachkriegsjahrfünfts beherrschten diese Kräfte das Feld noch keineswegs vollständig. Es gab nach wie vor auch jene, die eine Verständigung zwischen Bürgertum und Arbeiterschaft erstrebten. Wäre es anders gewesen, hätten sich im größten deutschen Staat, in Preußen, nicht Regierungen einer Großen oder, seit April 1925, einer Weimarer Koalition an der Macht behaupten können. Mitte der zwanziger Jahre gab es Anzeichen, die auf eine Erneuerung des «Klassenkompromisses» von 1918/19 hindeuteten, und Entwicklungen, die eher für politische Polarisierung sprachen. Sicher war nur soviel: Die Stabilisierung Weimars nach 1923 war eine relative, gemessen an der Instabilität der vorangegangenen Jahre. Die innere Bedrohung der Demokratie hatte nicht aufgehört, sondern nur nachgelassen.[ 17 ]
Autoritäre Transformation (I):
Die neuen Staaten «Zwischeneuropas»
Deutschland war nicht die einzige «junge» Demokratie Europas. Von den
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