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Geschichte des Westens

Geschichte des Westens

Titel: Geschichte des Westens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich August Winkler
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westlich von Rußland und östlich von Deutschland gelegenen Staaten «Zwischeneuropas» (den Begriff führte der jungkonservative deutsche Publizist Giselher Wirsing 1932 in die Debatte ein), die erst im Gefolge des Ersten Weltkrieges entstanden oder durch ihn ihre volle Unabhängigkeit erlangten, beziehungsweise, im Fall Polens, wiederherstellen konnten, waren zunächst alle, zumindest auf dem Papier, demokratisch verfaßt. Aber nur zwei, die Tschechoslowakei und Finnland, konnten ihr demokratisches System über die Krisen des ersten Nachkriegsjahrzehnts hinweg bewahren. Alle anderen gingen früher oder später zu mehr oder minder autoritären Regierungsformen über. Die Ursachen des Systemwechsels waren vielfältig: Die meisten neuen Staaten waren Agrarländer mit wenigen industriellen Zentren und ohne starkes städtisches Bürgertum; den wenigsten gelang eine Bodenreform, die die Not der Kleinbauern spürbar linderte; fast nirgendwo kam es zu einem befriedigenden Ausgleich nationaler Gegensätze; überall war die autoritäre Wende eine Reaktion auf die Doppelerfahrung von ökonomischer Krise und politischer Instabilität.
    Unter den neuen Staaten war einer, der gar keiner sein wollte: die Republik Österreich. In dem Wunsch, sich mit dem Deutschen Reich zu vereinigen, stimmten die drei größten Parteien, die Sozialdemokraten, die Christlichsozialen und die Großdeutschen, überein. Ansonsten gab es zwischen den Partnern der im März 1919 gebildeten Regierungskoalition, den Sozialdemokraten und Christlichsozialen, tiefe Gegensätze: Jene waren Zentralisten, sie strebten eine neue, auf Gemeineigentum beruhende Gesellschaft an und wollten den 1918/19 entstandenen Arbeiterräten eine maßgebliche Rolle bei der Kontrolle der Volkswehr sichern; diese waren Föderalisten, sie wollten die übernommene Gesellschaftsordnung erhalten und den sozialistischen Einfluß auf das Heerwesen zurückdrängen. Am Streit um die Zukunft der Soldatenräte zerbrach denn auch am 10. Juni 1920 die von dem Sozialdemokraten Karl Renner geführte Regierung der Großen Koalition. Die Nachfolge trat eine «Proporzregierung» unter dem christlich-sozialen Historiker Michael Mayr, dem bisherigen Minister für Verfassungs-und Verwaltungsreform, an, der Mitglieder beider Parteien sowie von ihnen im Konsens berufene parteilose Minister angehörten.
    Die wichtigste Aufgabe des neuen Kabinetts war die Verabschiedung der endgültigen Bundesverfassung, deren Entwurf von dem Wiener Staatsrechtler Hans Kelsen stammte. Sie schuf einen Bundesstaat mit einem Zweikammersystem, bestehend aus dem Nationalrat, der aus Wahlen nach dem allgemeinen gleichen Wahlrecht für Männer und Frauen hervorging, und dem Bundesrat, in dem die Länder – Burgenland, Kärnten, Niederösterreich, Oberösterreich, Salzburg, Steiermark, Tirol und Vorarlberg – vertreten waren. Die Bundeshauptstadt Wien genoß, obwohl sie einen Teil des Landes Niederösterreich bildete, einen Sonderstatus: Im Bundesrat galt sie als eigenständiges Land. (Ein gleichberechtigtes Land wurde Wien dann durch eine Verfassungsänderung vom 30. Juli 1925.) Beide Kammern wählten zusammen als Bundesversammlung in gemeinsamer Sitzung das Staatsoberhaupt, den Bundespräsidenten. (Die Volkswahl des Bundespräsidenten nach deutschem Vorbild wurde erst neun Jahre später durch eine Verfassungsänderung vom 7. Dezember 1929 eingeführt.) Am 1. Oktober 1920 nahm die Konstituierende Nationalversammlung das Gesetz über die Bundesverfassung an, am 10. November trat es in Kraft.
    Am 17. Oktober 1920 fanden Wahlen zum Nationalrat statt. Aus ihnen gingen die Christlichsozialen mit 79 Mandaten als Sieger hervor. Auf die Sozialdemokraten entfielen 62, auf die Großdeutschen 18 Sitze. Dazu kamen noch 6 Abgeordnete der Deutschen Bauernpartei und der als «bürgerlicher Demokrat» gewählte frühere Außenminister Graf Czernin. An die Spitze eines Kabinetts aus Christlichsozialen und Parteilosen trat erneut Michael Mayr. Er mußte am 1. Juni 1921 zurücktreten, weil die Großdeutschen ihm ihre Unterstützung entzogen. Der Grund für den Kurswechsel der drittgrößten Partei war eine höchst unpopuläre Entscheidung der Regierung: Sie hatte unter ultimativem Druck der Alliierten eine inoffizielle Volksabstimmung über den Anschluß an das Deutsche Reich in der Steiermark verboten, bei der eine ähnlich hohe Mehrheit der Ja-Stimmen erwartet wurde wie kurz zuvor in Tirol und Salzburg (dort hatten sich jeweils

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