Geschichte des Westens
rund 99 Prozent für die Vereinigung mit Deutschland ausgesprochen). Neuer Regierungschef wurde als Chef eines bürgerlichen Beamtenkabinetts der parteilose Wiener Polizeipräsident Johann Schober.
Doch auch diesem Bundeskanzler war nur eine kurze Amtsdauerbeschieden. Im Frühjahr 1922 setzte sich angesichts der immer rascheren Geldentwertung bei Christlichsozialen und Großdeutschen die Einsicht durch, daß die Bildung einer stabilen, von einer festen parlamentarischen Mehrheit getragenen Regierung nicht länger hinausgeschoben werden konnte. Am 31. Mai 1922 wurde der Vorsitzende der Christlichsozialen, Prälat Ignaz Seipel, zum Bundeskanzler gewählt; seinem Kabinett gehörten Minister beider Parteien an. Seipel erhielt im Oktober 1922 von Großbritannien, Frankreich, Italien und der Tschechoslowakei in den «Genfer Protokollen» eine Garantie für eine österreichische Anleihe von 650 Millionen Goldkronen, deren Verwendung ein vom Völkerbund ernannter Generalkommissar zu kontrollieren hatte. Dafür verpflichtete sich die Alpenrepublik, zwanzig Jahre lang ihre Unabhängigkeit nicht aufzugeben und mit Hilfe außerordentlicher, vom Parlament zu bewilligender Vollmachten die öffentliche Sicherheit und Ordnung zu bewahren. Die sozialdemokratische Opposition protestierte mit äußerster Schärfe gegen die Preisgabe des großdeutschen Gedankens und die nun einsetzende rigorose Sparpolitik, das «Sanierungswerk» der Regierung Seipel, richtete damit aber nichts aus: Die Christsozialen waren die Sieger der Nationalratswahlen vom Oktober 1923; sie erhielten 82, die Sozialdemokratische Partei Deutschösterreichs nur 68 Mandate.
Einen gewissen Ausgleich für die Machtlosigkeit auf Bundesebene bot den Sozialdemokraten die Position, die sie mittlerweile in der Hauptstadt errungen hatte. Unter ihrer Ägide entstand in den zwanziger Jahren das «rote Wien»: ein Zentrum der europäischen Arbeiterbewegungskultur mit mustergültigen sozialen Einrichtungen und Wohnanlagen wie dem festungsartig angelegten Karl-Marx-Hof im Bezirk Döbling, dem längsten zusammenhängenden Wohnbau der Welt. In Wien spitzte sich der Klassenkonflikt zwischen dem proletarischen und dem bürgerlichen Österreich in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre dramatisch zu. Eine wichtige Station im Prozeß der politischen Radikalisierung bildete der Linzer Parteitag der SPÖ vom November 1926. Die Sozialdemokraten gaben sich dort ein Programm, das rabiater klang, als es gemeint war: Um den Forderungen des linken Flügels entgegenzukommen, bekundete die Partei für den Fall, daß die Bourgeoisie sich nach einem Wahlsieg der Arbeiterklasse der gesellschaftlichen Umwälzung widersetzen sollte, ihre Entschlossenheit, diesen Widerstand mit den Mitteln der Diktatur zu brechen.
Den bürgerlichen Parteien kam der Verbalradikalismus der Sozialdemokratie gerade recht, um als antimarxistischer «Bürgerblock» mit einer Einheitsliste in den Wahlkampf vom Frühjahr 1927 zu ziehen. Das Wahlergebnis vom 24. April fiel dann freilich für die Christlichsozialen enttäuschend aus: Gegenüber 1923 verloren sie 9 Sitze, während die Sozialdemokraten 3 hinzugewannen. Mit ihren nunmehr 71 Abgeordneten waren sie nur noch wenig schwächer als die Christlichsozialen, die auf 73 Parlamentarier kamen. Mit Hilfe von Großdeutschen und Landbund gelang es Seipel dennoch, die gewünschte «Bürgerblockregierung» zustande zu bringen.
Beide Lager verfügten zu dieser Zeit längst über einen bewaffneten Arm: die Sozialdemokratie in Gestalt des 1923 gegründeten Republikanischen Schutzbundes, die Bürgerlichen in Form von Wehrverbänden, die sich mit Waffen aus der Kaiserzeit ausgerüstet hatten. Ende Januar 1927 kam es in Schattendorf im Burgenland zu einem folgenreichen blutigen Zwischenfall: Angehörige der rechten Frontkämpfervereinigung schossen auf Arbeiter des Republikanischen Schutzbundes und töteten dabei einen Kriegsinvaliden und ein Kind. Am 14. Juli 1927 sprach ein Wiener Geschworenengericht die drei Männer, die wegen dieser Tat angeklagt worden waren, frei und löste damit tags darauf spontane Massendemonstrationen sozialistischer Arbeiter in Wien aus, die ihrer Empörung über diesen offenkundigen Fall von «Klassenjustiz» Ausdruck verleihen wollten. Nach ersten blutigen Zusammenstößen mit der Polizei setzten einige der Protestierenden den Justizpalast an der Ringstraße in Brand, woraufhin die Regierung Seipel die Wiener Polizei mit Armeekarabinern
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