Geschichte des Westens
ausrüsten ließ, um den Platz vor dem Gerichtsgebäude zu räumen. Steinwürfe der Arbeiter wurden mit Gewehrschüssen beantwortet. Am Ende der Kämpfe waren 89 Menschen, darunter vier Polizisten, tot. Die Zahl der Verletzten ging in die Hunderte.
Für die Sozialdemokraten bedeutete der Ausbruch anarchistischer Gewalt im Sommer 1927 eine schwere Niederlage. Ein landesweiter eintägiger Generalstreik und ein nach drei Tagen abgebrochener Verkehrsstreik waren die symbolischen Aktionen, mit denen Partei und Gewerkschaften zu beweisen versuchten, daß die Führung der Arbeitermassen noch immer bei ihnen lag. Aber die Chancen, in Österreich wieder einen Anteil an der Regierungsmacht zu erlangen, hatten sich nach den Ereignissen vom 15. Juli 1927 nachhaltig verschlechtert. Ingewisser Weise zahlte die Sozialdemokratie damals den Preis für jenen spezifisch «austromarxistischen» Linkskurs, mit dem es ihr gelungen war, den Aufstieg einer kommunistischen Konkurrenzpartei zu verhindern. Denn es lag auf der Hand, daß die Offenheit nach links, der die Partei auch mit den revolutionär anmutenden Aussagen des Linzer Programms Tribut gezollt hatte, eine der tieferen Ursachen des Wiener Debakels war. Zu den Folgen des 15. Juli gehörte auch der Auftrieb, den die Konfrontation den rechtsstehenden paramilitärischen Heimwehren gab: Sie erfreuten sich seit dem Sommer 1927 eines starken Zulaufs an Mitgliedern und steigender finanzieller Zuwendungen aus der Unternehmerschaft wie auch aus Italien und Ungarn.
Drei Jahre später, am 9. November 1930, fanden Wahlen zum Nationalrat statt, von denen damals noch niemand wissen konnte, daß es die letzten der Ersten Republik sein würden. Das bürgerliche Lager zog zersplittert in den Wahlkampf: Um den parteilosen früheren Bundeskanzler Johann Schober, der von September 1929 bis zum September 1930 erneut Regierungschef gewesen war, hatte sich der «Schober-Block» unter Einschluß der Großdeutschen gebildet, auf den 9 Mandate entfielen. Die Christlichsozialen sanken von 73 auf 66 Sitze; der «Heimatblock» mit dem Heimwehrführer Rüdiger (Fürst von) Starhemberg an der Spitze entsandte 8 Abgeordnete ins Parlament. Stärkste Partei wurde mit 72 statt bisher 71 Sitzen die SPÖ, die damit auch, in der Person von Karl Renner, den Ersten Präsidenten des Nationalrats stellen konnte.
Von der Regierungsmacht aber war die Sozialdemokratie nach wie vor weit entfernt. Mit der Bildung des Kabinetts beauftragte Bundespräsident Miklas den Landeshauptmann von Vorarlberg, Otto Ender, einen Politiker der Christlichsozialen. Schober wurde Vizekanzler und Außenminister. Er behielt diese Ämter im Juni 1931 auch unter Enders christlich-sozialem Nachfolger, dem bisherigen Landeshauptmann von Niederösterreich, Karl Buresch. Als Außenminister trug Schober auch die Hauptverantwortung für den Fehlschlag eines Projekts, das er nach längerer Vorbereitung im März 1931 zusammen mit seinem deutschen Kollegen Julius Curtius, dem Außenminister des ersten Kabinetts Brüning, auf den Weg gebracht hatte: dem Plan einer deutsch-österreichischen Zollunion.
Das Vorhaben scheiterte, kaum überraschend, am hartnäckigen Widerstand der Westmächte, vor allem Frankreichs. Auf Antrag Großbritanniensüberwies der Völkerbundsrat das Vorhaben mit der Bitte um Prüfung am 18. Mai 1931 an den Internationalen Gerichtshof in Den Haag. Dieser entschied am 5. September 1931 mit 8 gegen 7 Stimmen, daß die Zollunion dem Genfer Protokoll von 1922 über den wirtschaftlichen und finanziellen Wiederaufbau Österreichs widerspreche, also vertragswidrig sei. Zwei Tage zuvor schon hatten Curtius und Schober erklärt, daß sie den Plan nicht weiter verfolgen würden. Der Verzicht war der Preis, den Wien für die Sanierung Österreichs mit Hilfe internationaler Kredite entrichten mußte. Wäre diese Hilfe ausgeblieben, hätte der Zusammenbruch der Österreichischen Creditanstalt am 11. Mai 1931, eine Folge des Rückzugs kurzfristiger französischer Kredite, eine wirtschaftliche Katastrophe ausgelöst und direkt in den Staatsbankrott geführt. Auch nach der ausländischen Kredithilfe mußte Österreich schwer unter der Depression leiden. Bis 1938 lag die Arbeitslosenrate stets über 20 Prozent der abhängig beschäftigten Bevölkerung.
Ende Januar 1932 zerbrach das Kabinett Buresch am wechselseitigen Mißtrauen zwischen Christlichsozialen und Großdeutschen, den stärksten Befürwortern der Zollunion. Buresch blieb
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