Geschichte des Westens
verwirklicht, in dem seine Würde als Mensch beruht». Der Faschismus war «eine religiöse Auffassung, in der der Mensch in seiner inneren Verbundenheit mit einem höheren Gesetz gesehen wird, zu einem objektiven Geist, der über das besondere Individuum hinausgeht und es zu einem mitwissenden Glied einer geistigen Gemeinschaft macht … In diesem Sinn ist der Faschismus totalitär, und der faschistische Staat als Zusammenfassung und Vereinheitlichung aller Werte gibt dem Leben des ganzen Volkes seine Deutung, bringt es zur Entfaltung und kräftigt es.» Der Begriff der faschistischen Autorität habe nichts zu tun mit dem Polizeistaat. «Eine Partei, die eine Nation totalitär beherrscht, ist ein neues Faktum der Geschichte.»
Der Faschismus, wie Mussolini ihn authentisch deutete, verwarf die aufgeklärte Vernunft und bekannte sich zur Kraft des instinktiven Willens. Der Faschismus war antiindividualistisch, antiliberal und antimaterialistisch. Er stellte sich gegen eine Demokratie, die das Volk mit der Mehrheit gleichsetzte, und beanspruchte für sich, eine reinere Form der Demokratie zu verkörpern, weil er ein qualitatives Verständnis vom Volk habe. Der Faschismus sah im Staat ein Absolutum, in Individuen und Gruppen etwas Relatives. Er war nationalistisch, kriegerisch und expansiv und lehnte weltumspannende Verbrüderungen ab. «Der Krieg allein bringt alle menschlichen Energien zur höchsten Anspannung und verleiht den Völkern die Würde des Adels, die den Mut und die
Virtù
haben, dem Kampf die Stirn zu bieten … Für den Faschismus ist das Streben zum
Impero
, das heißt zur Expansion der Nation, ein Ausdruck der Vitalität … Völker, die steigen oder wieder aufsteigen, sind imperialistisch, nur niedergehende Völker können verzichten.»
Mussolini zögerte nicht, den Faschismus die «Doktrin des gegenwärtigen Jahrhunderts» zu nennen: ein Verdikt, das er damit begründete, daß die Völker heute ein Verlangen nach Autorität, Lenkung undOrdnung hätten. Er behauptete sogar, daß der Faschismus in der Welt nunmehr jene «Allgemeingeltung» (universalità) habe, die alle Doktrinen hätten, «die, indem sie sich verwirklichen, eine Etappe in der Geschichte des menschlichen Geistes darstellen». Der «Duce» schien in seinem Artikel von 1932 also davon auszugehen, daß der Faschismus keine reine italienische Erscheinung, sondern ein bestimmter Regimetypus sei – erreichbar auch für andere Völker, die sich zu einem radikalen Bruch mit den Illusionen des liberalen Zeitalters und den Versprechungen des Marxismus entschlossen.
Doch wenn er aus konkreten Anlässen sprach, hob Mussolini stets die Einzigartigkeit Italiens und seiner historischen Bestimmung hervor. Es waren eher die Antifaschisten auf der Linken, die frühzeitig den Begriff «Faschismus» vom italienischen Ursprungsland ablösten, um damit einen bestimmten neuen Typus gewalttätiger Bewegungen und Regime von rechts zu charakterisieren. In diesem Fall bedeutete der Begriff freilich nicht notwendig dasselbe, was er im italienischen Fall beinhaltete. Denn was immer außerhalb der Apenninenhalbinsel aus den italienischen Erfahrungen gelernt wurde, konnte nur wirksam werden, wenn es sich mit einem vergleichbar starken, die jeweilige Besonderheit betonenden Nationalismus verband. «Faschistische» Regime mochten sich zu Zweckbündnissen gegen Dritte verbinden und um Sympathisanten außerhalb der eigenen Grenzen bemühen. Aber eine «faschistische Internationale» wäre ein Widerspruch in sich gewesen.
Das Wort «totalitär» benutzte Mussolini in seinem Beitrag für die «Enciclopedia Italiana» 1932 nicht das erste Mal. Schon 1925 hatte er den «wilden totalitären Willen» (feroce volontà totalitaria) der Faschisten beschworen. Eine Neuschöpfung des «Duce» war der Begriff nicht: Vor Mussolini hatten seit 1923 liberale Kritiker wie Giovanni Amendola und Sozialisten wie Lelio Basso das faschistische Regime als «totalitario» bezeichnet. Mussolini meinte mit «totalitär» die von keiner Opposition gefährdete einheitliche Willensbildung des Staates entsprechend seiner 1925 ausgegebenen Devise «Alles im Staat, nichts außerhalb des Staates, nichts gegen den Staat» (tutto nello Stato, niente al di fuori dello Stato, nulla contra lo Stato).
Als «totalitär» gilt seit den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts ein Regime, für das Politik im Kern der Kampf zwischen Freund und Feind ist, das jede Opposition gewaltsam unterdrückt und alle
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