Geschichte des Westens
wirkten. Die Weltrevolution konnte warten, weil sie ohnehin nur erstrebenswert war, wenn sie den Stempel der Sowjetunion trug. In Stalins Worten aus dem Jahr 1926: «Die Macht des Proletariats wird ausgenutzt zur Unterdrückung der Ausbeuter, zur Verteidigung des Landes, zur Festigung der Verbindung mit den Proletariern der anderen Länder, zur Entfaltung und zum Sieg der Revolution in allen Ländern.»
Was den politischen Voluntarismus betraf, war Stalin Lenin kongenial. Wie dieser hielt auch sein Nachfolger es für ausgemacht, daß der Sozialismus den ganzen Menschen beanspruchen durfte, ja mußte, um einen neuen, den sozialistischen Menschen hervorzubringen. Dieser totalitäre Anspruch verlangte ein totalitäres System. Lenin hatte dessen Grund gelegt, Stalin baute es weiter aus. Sein Regime war der Bürgerkrieg in Permanenz, eine Mobilisierungsdiktatur, ausgeübt durch eine Klasse von Berufsrevolutionären, denen der Terror zur zweiten Natur geworden war. Unter Lenin war Widerspruch innerhalb der kollektivenFührung der bolschewistischen Partei noch möglich, unter Stalin immer weniger. Im Zweifelsfall verkörperte
er
den kollektiven Willen der Partei. Was er auf dem Weg zu dieser Identifikation im ersten Jahrzehnt nach Lenins Tod erreicht hatte, war viel, aber noch längst nicht alles, was sich aus seiner Machtposition heraus bewirken ließ.
Der Erzeugung des neuen Sowjetmenschen diente eine Kulturrevolution, die nach dem Urteil des Historikers Jörg Baberowski keine Episode, sondern das «Signum des Stalinismus» war. Die Träger der sozialistischen Kulturrevolution waren vor allem soziale Aufsteiger, die über «Arbeiterfakultäten» in Berufe gelangten, die vorher «bürgerlichen» Akademikern vorbehalten waren. Wer den «sozial fremden Elementen» zugerechnet wurde, hatte keinen Zugang mehr zu den höheren Bildungsanstalten. Der «neue Mensch» mußte sich immer aufs neue durch die Denunziation angeblicher Feinde des Sozialismus, etwa bürgerlicher Professoren, bewähren. Er brauchte den Feind, um zu begreifen, was ihn, den neuen sozialistischen Menschen, ausmachte. Er hatte einer neuen, der sozialistischen Moral zu genügen, um sich zum geistig und körperlich vollkommenen Menschen zu entwickeln, wie es ihn in keiner Klassengesellschaft je gegeben hatte oder gab.
Der Kampf um den neuen Sowjetmenschen verlangte den Kampf gegen den alten Menschen, der nicht nur übermäßigem Wodkagenuß, sondern auch dem Opium der überlieferten Religion frönte. Mit der Kollektivierung der Landwirtschaft gingen zahllose Kirchenschließungen einher, was immer wieder dörfliche Widerstandsaktionen auslöste. Kirchenglocken wurden eingeschmolzen und damit der Industrialisierung nutzbar gemacht. Nirgendwo aber war der Zusammenstoß zwischen der neuen Quasireligion der sozialistischen Utopie und der widerstrebenden Wirklichkeit so kraß wie in den islamischen Gesellschaften an der sowjetischen Peripherie in Zentralasien. 1927 wurde dort die Scharia aufgehoben. Komsomolbrigaden nahmen Frauen gewaltsam den Schleier ab. Gegen Frauen, die von sich aus den Schleier abwarfen und der Kommunistischen Partei beitraten, richtete sich der erbitterte Widerstand gläubiger Muslime. In Usbekistan wurden zwischen Frühjahr 1929 und Frühjahr 1930 annähernd 400 Frauen getötet. Sehr viel größer war die Zahl der Frauen dieser Kategorie, die von Traditionalisten verstümmelt, vergewaltigt, kollektiven Schandstrafen ausgesetzt oder aus der Dorfgemeinschaft ausgestoßen wurden.
Die Bolschewiki beantworteten den gewaltsamen Widerstand mit verschärfter Repression. In den Worten Baberowskis: «Sie entsandten fliegende Strafgerichte in die betroffenen Regionen, ließen Männer, die Frauen getötet oder vergewaltigt hatten, hinrichten und inszenierten Schauprozesse als Lehrstücke, in denen sie der Bevölkerung vorführten, wie das Regime mit Konterrevolutionären und Klassenfeinden umging. Für die Bolschewiki waren diese Frauen nicht ermordet worden, sie waren im Kampf gegen die Konterrevolution gefallen.»
Während der Terror gegen Kulaken und andere Konterrevolutionäre tobte, führte die KPdSU einen flankierenden innerparteilichen Kampf gegen unzuverlässige Elemente. Im April 1929 ordnete das ZK eine Säuberung der Partei mit dem Zweck an, die sozialistische Offensive von «kapitalistischen» und «kleinbürgerlichen» Sabotageakten freizuhalten. Etwa 11 Prozent der Mitglieder und Kandidaten wurden aus der KPdSU ausgeschlossen, die
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