Geschichte des Westens
Vierteljahrhundert, bis die Viehhaltung wieder das Niveau von 1928 erreichte. Erst in den fünfziger Jahren kamen die Zahlen der landwirtschaftlichen Pro-Kopf-Produktion wieder an den Stand vor der Kollektivierung heran. Wenn sich die Lage der Landwirtschaft seit 1933 wieder festigte, lag das an weitreichenden Zugeständnissen an die Bauern. Stalin ließ die meisten Staatsgüter, die Sowchosen, wieder auflösen und ihr Land den Kolchosen übereignen. Es gab, von Stalin durchaus gewollt, arme und reiche Kolchosen und innerhalb der Kolchosen arme und reiche Bauern. Die Kolchose wurde nicht zur kommunistischen Gemeinschaft, sondern zu einer Genossenschaft, in der die Bauern ein kleines Stück Land, etwa 5 Prozent der Nutzfläche, privat bewirtschafteten und etwas Vieh halten konnten. Bis in die fünfziger Jahre lieferte das bäuerliche Hofland über 70 Prozent der Kartoffeln, etwa 70 Prozent der Milch und 90 Prozent der Eier. Wären die Bauern allein auf den Lohn angewiesen gewesen, den sie von der Kolchose erhielten, hätte das zum Leben nicht ausgereicht. Es war das Hofland, das ihre Existenz sicherte.
Auch bei der Industrialisierung mußte das Regime zurückstecken. Die ehrgeizigen Ziele des Ersten Fünfjahresplanes wurden nicht erreicht. Stalin hatte 1930 verlangt, die Kohle- und Stahlproduktion innerhalb eines Jahres ungefähr um die Hälfte zu steigern. Tatsächlich gelang, wie der Generalsekretär der KPdSU 1931 einräumen mußte, nur eine Erhöhung um 6 bis 10 Prozent. Es war der forcierten Industrialisierung alles andere als förderlich, daß das Regime 1928 mit dem Kampf gegen die «bürgerlichen Spezialisten» (spetzys) begonnen hatte. Den Auftakt bildete die Aufdeckung eines Falles von angeblicher «industrieller Sabotage» in einem zum Donugul-Trust gehörendem Betrieb der Schachty-Region, eines Steinkohlereviers im Donezbecken. Von den 53 Angeklagten, meist Ingenieuren und Betriebsdirektoren, wurden in einem Schauprozeß 11 zum Tode verurteilt und 5 hingerichtet.
Es folgten weitere Verhaftungen von Führungskräften, vor allem der Metallindustrie, die ihre Strafen auf Baustellen und in Betrieben des Ersten Fünfjahresplans verbüßen mußten. Im August und September 1930 erreichte die Kampagne gegen die «bürgerlichen Spezialisten» auch prominente Professoren, die in Ministerien, in der Staatsbank und der Staatlichen Planungskommission Gosplan arbeiteten, unter ihnen Nikolaj D. Kondratieff, den international angesehenen Entdeckerder langen Wellen in der Konjunktur, der «Kondratieff-Zyklen», der bis 1928 an der Spitze des Konjunkturinstituts des Volkskommissariats für Finanzen gestanden hatte. Daß der Konjunkturtheoretiker Kondratieff dem Kapitalismus die Fähigkeit bescheinigte, sich aus einer zyklischen Krise wie der nach 1929 zu neuen Höhen aufzuschwingen, machte ihn aus der Sicht orthodoxer Bolschewiki zu einem gefährlichen Abweichler. Nach acht Jahren Einzelhaft wurde Kondratieff am 17. September 1938 von einem Militärtribunal zum Tode verurteilt und noch am gleichen Tag hingerichtet.
Obwohl die Ergebnisse des Ersten Fünfjahresplans weit hinter den gesteckten Zielen zurückblieben, wurde 1933 ein Zweiter Fünfjahresplan verabschiedet, dessen etwas bescheidenere Ziele man 1938, als ein Dritter Fünfjahresplan verkündet wurde, für erreicht erklärt. Die sowjetischen Daten über die Erfolge der Industrialisierung sind umstritten. Ihnen zufolge wurde die sowjetische Industrieproduktion zwischen 1928 und 1940 von 100 auf 587 Prozent gesteigert (nach westlichen Schätzungen auf 250 bis 450 Prozent). Rein quantitativ überholte die Sowjetunion bis zum Beginn des Zweiten Weltkrieges, was das Volumen der Industrieproduktion anging, Deutschland, Großbritannien und Frankreich und lag damit auf dem zweiten Platz hinter den USA. Die Steigerungsdaten belegen aber nur ein Mengenwachstum. Was die Produktivität betraf, lag die Sowjetunion nach wie vor weit hinter den westlichen Industrienationen. Mit der Mischung aus terroristischem Zwang und proletarischem Enthusiasmus, die für die Sowjetunion der Stalinzeit typisch ist, war dieser Rückstand nicht zu beheben.
Die Gründe, die ihn veranlaßten, durch eine zweite Revolution aus dem rückständigen Agrarland Rußland binnen weniger Jahre ein entwickeltes Industrieland zu machen, hat Stalin im Februar 1931 in einer Rede vor Wirtschaftsfunktionären bemerkenswert offen dargelegt. «Zuweilen wird die Frage gestellt, ob man nicht das Tempo
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