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Geschichte des Westens

Geschichte des Westens

Titel: Geschichte des Westens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich August Winkler
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etwas verlangsamen, die Bewegung zurückhalten könnte. Nein, das kann man nicht, Genossen! Das Tempo darf nicht herabgesetzt werden! Im Gegenteil, es muß nach Kräften und Möglichkeiten gesteigert werden. Das fordern von uns unsere Verpflichtungen gegenüber den Arbeitern und Bauern der UdSSR. Das fordern von uns unsere Verpflichtungen gegenüber der Arbeiterklasse der ganzen Welt. Das Tempo verlangsamen, das bedeutet zurückbleiben. Und Rückständige werden geschlagen.Wir aber wollen nicht die Geschlagenen sein … Die Geschichte des alten Rußland bestand unter anderem darin, daß es wegen seiner Rückständigkeit fortwährend geschlagen wurde … Es wurde von allen geschlagen wegen seiner Rückständigkeit, seiner kulturellen Rückständigkeit, seiner staatlichen Rückständigkeit, seiner industriellen Rückständigkeit, seiner landwirtschaftlichen Rückständigkeit. Es wurde geschlagen, weil das einträglich war und ungestraft blieb … Wir sind hinter den fortgeschrittenen Ländern um 50 bis 100 Jahre zurückgeblieben. Wir müssen diese Distanz in zehn Jahren durchlaufen. Entweder wir bringen das zuwege, oder wir werden zermalmt.»
    Der politische Voluntarismus, von dem der Entschluß zur Kollektivierung der Landwirtschaft und zum Ersten Fünfjahresplan geprägt war, hatte seinen Grund in einer zutreffenden Diagnose: Rußland war so rückständig, wie es Stalin darstellte. Die Bedrohung von außen war ein wirksames Argument, um jene ins Unrecht zu setzen, die auf ein langsameres Tempo der Industrialisierung drängten. Tatsächlich gab es seit dem Ende der alliierten Interventionen bei keiner der kapitalistischen Mächte die Absicht, militärisch gegen die Sowjetunion vorzugehen und die Oktoberrevolution rückgängig zu machen. Eine Bedrohung der Sowjetunion stellte hingegen die radikalste der faschistischen Bewegungen, der deutsche Nationalsozialismus, dar, und gerade diese Bewegung wurde von Stalin dadurch gefördert, daß er im Zeichen der ultralinken Wende die kommunistischen Parteien des Auslands und in vorderster Front die deutsche zum verschärften Kampf gegen die Sozialdemokratie antrieb.
    Stalin handelte auch auf andere Weise seinen eigenen Zielen entgegen: Durch die Kampagne gegen die «bürgerlichen Experten» entzog er einer rationalen Planung des industriellen Wachstums die wissenschaftliche Grundlage. Was blieb, waren der pure Wille und die nackte Gewalt. Die Folge waren die Vernichtung unzähliger Menschenleben und eine Vergeudung von materiellen Ressourcen im großen Stil. Als Stalin den Kampf gegen die bürgerlichen Experten im Juni 1931 für beendet erklärte, waren alle Schaltstellen der Wirtschaft in der Hand zuverlässiger Bolschewiken.
    Anfang 1926, zwei Jahre vor der ultralinken Wende, hatte Stalin in seiner Schrift «Zu den Fragen des Leninismus» die These aufgestellt, die Hauptaufgabe der bürgerlichen Revolution bestehe darin, «die Macht zu ergreifen und sie mit der vorhandenen bürgerlichen Ökonomikin Einklang zu bringen, während die Hauptaufgabe der proletarischen Revolution darin besteht, nach der Machtergreifung eine neue, die sozialistische Ökonomik aufzubauen». Das war nichts Geringeres als eine Umkehrung der Marxschen Lehre vom Verhältnis von Basis und Überbau, aber auch noch etwas anderes: eine weitere Steigerung jener Dialektik von Rückständigkeit und Radikalität, zu der schon der junge Marx seinen Beitrag geleistet hatte, als er 1843 (in der Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie) dem rückständigen Deutschland die Aufgabe zuschrieb, die radikalste aller Revolutionen, die proletarische, durchzuführen.
    Lenin hatte ebendiese Aufgabe dem rückständigen Rußland zugewiesen, die Vollendung der proletarischen Revolution aber von erfolgreichen Anschlußrevolutionen in den entwickelten kapitalistischen Ländern abhängig gemacht. Stalin gab den Gedanken der Weltrevolution nicht auf, als er seine Doktrin vom «Aufbau des Sozialismus in
einem
Lande» verkündete. Aber er hielt die Arbeiterklasse und die kommunistischen Parteien des Westens nicht für fähig, aus eigener Kraft das Proletariat zum Siege zu führen, und er betrachtete solche Revolutionen auch nicht als notwendige Voraussetzung für den Aufbau des Sozialismus in der Sowjetunion. Je stärker die Sowjetunion wurde, desto mehr konnte sie auch die kommunistischen Parteien außerhalb ihrer Grenzen in ihrem Sinn lenken und durch diese Einfluß nehmen auf die Politik der Länder, in denen sie

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