Geschichte des Westens
meisten wegen Verstößen gegen die Parteidisziplin, «unsozialistischen» Verhaltens und nachlässiger Ausführung von Direktiven. Seit Ende 1930 sah sich Stalin erneut durch eine «rechte» Gruppierung innerhalb der Parteiführung herausgefordert, an deren Spitze zwei Funktionäre standen, die den Generalsekretär im Kampf gegen die «Rechte» bisher unterstützt hatten: Der Vorsitzende des Rates der Volkskommissare der Russischen Föderierten Sowjetrepublik, S. I. Syrzow, wagte es, eine Mustertraktorenfabrik bei Stalingrad als «Potjomkisches Dorf» zu bespötteln und den angeblichen Durchbruch bei der Industrialisierung als «Augenwischerei» zu bezeichnen; der Sekretär der transkaukasischen KP, V. V. Lominadze, warf dem Regime einen «herrenmäßig-feudalen» Umgang mit den Bauern vor.
Noch schärfer fiel die Kritik aus, die 1932 der Moskauer Parteibezirkssekretär M. N. Rjutin übte. Zusammen mit Gleichgesinnten verfaßte er eine «Plattform», in der er Stalin den «bösen Geist der russischen Revolution» nannte, dessen Rachsucht und Machtgier das Regime an den Rand des Abgrunds gebracht habe. Der empörte Stalin verlangte im Herbst 1932 im Politbüro die Hinrichtung Rjutins, konnte sich damit aber nicht durchsetzen. Die Mehrheit, zu der der Leningrader Parteisekretär Sergej Kirow gehörte, war lediglich bereit, den Ausschluß des Beschuldigten aus der Partei und seine Verbannung aus der Hauptstadt zu beschließen. Offenbar war die Kritik an Stalins Politik und Führungsstil innerhalb der KPdSU sehr viel weiter verbreitet, alsselbst gut informierte Beobachter wußten. Eine zweite Parteisäuberung, die Anfang Januar 1933 beschlossen wurde und zum Ausschluß von 17 Prozent der Mitglieder und Kandidaten der KPdSU führte, vermochte Stalins Bedürfnis nach absoluter Kontrolle nicht zu befriedigen. Daß er sich im Politbüro im Zweifelsfall nur auf eine Minderheit um Wjatscheslaw Molotow und Lasar Kaganowitsch verlassen konnte, wirkte als Stachel: Die Machtfülle des Generalsekretärs war immer noch nicht unbeschränkt.
Bei den Mitgliederparteien der Komintern wußte man so gut wie nichts über die Meinungsverschiedenheiten in der Führung der KPdSU. Nirgendwo fand die Sowjetunion Stalins so glühende Verteidiger wie bei den kommunistischen Parteien des Westens. Je mehr die soziale Not in den kapitalistischen Ländern seit 1929 wuchs, desto heller leuchtete das Licht
des
Landes, das den Kapitalismus auf revolutionärem Weg abgeschafft hatte. Was die Sowjetunion tat, erschien nicht nur den Führungen der kommunistischen Parteien, sondern auch den breiten Massen ihrer proletarischen Anhänger als vorbildlich. Das galt für die Bücher, Theaterstücke und Filme, die aus dem Mutterland des Sozialismus kamen, es galt aber auch für die Methoden, mit denen dort der Klassenfeind bekämpft wurde. «Erschießen! Erschießen! Erschießen!» lautete die Schlagzeile der «Roten Fahne» in Berlin vom 25. November 1930. Das war zwar nicht eine Aufforderung an die deutschen Kommunisten, sondern nur «die Stimme des Volkes in den Betrieben» von Berlin zum Moskauer Schauprozeß gegen die «Industriepartei» – eine angebliche Sabotagegruppe, die laut Anklage im Auftrag des französischen Generalstabs und der französischen Regierung einen Interventionskrieg gegen die Sowjetunion organisatorisch vorbereitetet haben sollte. Aber es waren deutsche Stimmen, die das Zentralorgan der KPD zu Wort kommen ließ, und es war aus der Umfrage unschwer herauszulesen, daß im Fall eines kommunistischen Umsturzes im Deutschen Reich auch mit deutschen Konterrevolutionären «russisch geredet» werden würde.
Sympathie für die Sowjetunion gab es auch außerhalb der kommunistischen Parteien. Auf dem Kongreß der Liga für Menschenrechte in Paris im Jahre 1927 forderte deren Präsident, der einstige Verteidiger von Alfred Dreyfus, Victor Basch, die Anwesenden auf, sich nicht vor dem Wort «Revolution» zu fürchten. Unter Beifall fügte er hinzu: «Und machen wir uns bewußt, daß jede Revolution zwangsläufig einevorübergehende Aussetzung der Legalität ist.» Die russische Oktoberrevolution war Basch zufolge die Revolution von Klassen, die von der bürgerlichen Revolution nicht profitiert hatten. Was in der Sowjetunion zur Zeit geschah, war aus dieser Sicht der terroristischen Phase der Französischen Revolution vergleichbar, also ein Durchgangsstadium zu einer neuen Legalität. Daß das russische «1793» sehr viel länger dauerte
Weitere Kostenlose Bücher