Geschichte des Westens
als das französische, schien einen großen Teil der französischen Linken nicht zu irritieren.
Selbst Reisen in die Sowjetunion führten nicht notwendigerweise zu einer nüchternen Erkenntnis der Wirklichkeit. Als Édouard Herriot, der Führer der französischen Radicaux, im September 1933 von einer (durch die örtlichen Machthaber sorgfältig vorbereiteten, ja inszenierten) Fahrt durch die Ukraine zurückkehrte, äußerte er sich mit Worten höchster Anerkennung über das, was ihn die Gastgeber hatten sehen lassen: «Ich habe die Ukraine bereist. Und ich kann Ihnen versichern, daß ich sie wie einen Garten erlebt habe, der vor einer ertragreichen Ernte steht. Es wird behauptet, so sagen Sie, daß diese Gegend gerade schwere Zeiten durchmacht? Ich kann nicht von etwas berichten, was ich nicht gesehen habe. Dabei habe ich mich in leidgeprüfte Gegenden fahren lassen. Und ich konnte überall nur Wohlstand feststellen …»
Womöglich noch günstigere Eindrücke gewannen einige britische Fabier, die in der ersten Hälfte der dreißiger Jahre in die Sowjetunion reisten. Zwei von ihnen, G. B. Shaw 1932 und H. G. Wells zwei Jahre später, hatten sogar die Gelegenheit, ausführlich mit Stalin zu sprechen, und verließen ihn beeindruckt von seiner Offenheit und Klugheit. Shaw behauptete anschließend, er habe in der Sowjetunion nicht eine einzige unterernährte Person gesehen. Sidney und Beatrice Webb, beide über siebzigjährig, bescheinigten, nachdem sie sich 1932 ebenfalls in die Sowjetunion begeben hatten, in ihrem 1935 erschienenen Buch «The Soviet Union – A New Civilization?» der KPdSU, sie sei ein demokratisches Sprachrohr der russischen Bevölkerung, und Stalin, daß er «nicht einmal die enormen Machtbefugnisse» besitze, die der amerikanische Kongreß zeitweilig Präsident Franklin Delano Roosevelt bewilligt habe, sondern «lediglich Generalsekretär» sei. Das Bild der Sowjetunion, das die Webbs vermittelten, war das einer Demokratie genossenschaftlicher Produzenten, die sich des Großgrundbesitzes und des Kapitalismus entledigt hatten und gemeinsam, im Namen derWissenschaft, eine neue Gesellschaft und einen neuen Menschen hervorbrachten. Als das Buch 1937 in Zweiter Auflage erschien, fehlte das Fragezeichen hinter dem Untertitel «A New Civilization».
Die Konservativen und Liberalen von Winston Churchill bis Emil Ludwig, die sich vom faschistischen Italien und seinem Duce beeindruckt zeigten, waren derselben Täuschung erlegen wie die britischen und französischen Linken, nachdem sie sich für kurze Zeit in der Sowjetunion aufgehalten hatten: Sie fanden bestätigt, woran sie glauben wollten, und sie schotteten sich ab gegen alles, was ihre vorgefaßte Meinung hätte erschüttern können.[ 26 ]
Boom, Krise, Depression: Die USA 1928–1933
Nirgendwo in der westlichen Welt war die Begeisterung für den «Aufbau des Sozialismus» in der Sowjetunion so gering wie in
dem
Land, von dem der deutsche Nationalökonom Werner Sombart 1906 geschrieben hatte, es sei «für den Kapitalismus Kanaan, das Land der Verheißung»: die Vereinigten Staaten von Amerika. Aber selbst in den USA gab es neben den wenigen eingetragenen Mitgliedern der Kommunistischen Partei (1929 waren es unter 10.000) auch eine beträchtliche Zahl von Intellektuellen in der Tradition der «progressives», die mit Respekt, ja Bewunderung auf die Errungenschaften der UdSSR blickten.
Der prominenteste unter ihnen war der Philosoph John Dewey, der 1928 die Sowjetunion bereist und dort vor allem Schulen besucht hatte. In der «New Republic» nannte er die UdSSR im November 1928 ein Land, «das, befreit von der drückenden Last der Vergangenheit, von der Leidenschaft beseelt scheint, eine neue Welt zu schaffen». Der Politikwissenschaftler Frederick L. Schuman meinte im Mai 1930, ebenfalls in der «New Republic», die Sowjetunion würde nicht marxistische, sondern «progressive» Ideale verwirklichen, und das Regime Stalins sei bloß eine «Verwaltungsagentur, mit deren Hilfe wirtschaftliches Chaos und Ausbeutung durch intellektuell geleitete Planung und Zusammenarbeit ersetzt» würden. Sehr viel weiter gingen bekannte Schriftsteller wie John Dos Passos, Theodore Dreiser und Upton Sinclair, die sich im Mai 1931 an der Gründung der Workers’ Cultural Federation, einer getarnten kommunistischen Parteiinitiative, beteiligtenund sich in das Ehrenpräsidium der neuen, kurzlebigen Organisation wählen ließen.
Bedeutend mehr Sympathisanten als die
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