Geschichte des Westens
nicht hauptberuflich mit der Wirtschaft zu tun hatten – in den Worten von John Kenneth Galbraith: «Der Aktienmarkt beherrschte die Kultur.» An Warnzeichen vor einer Überhitzung der Konjunktur fehlte es nicht: Am 14. Februar regte die Federal Reserve Bank in New York, um der Spekulation Zügel anzulegen, eine Erhöhung des Diskontsatzes von 5 auf 6 Prozent an, drang damit aber beim Federal Reserve Board in Washington nicht durch. Im Juni stieg der Industrieaktienindex der «New York Times» um 52, im Juli um 25, im August um 33, innerhalb von drei Monaten also um 110 Punkte, von 339 auf 449. Im ganzen Jahr 1928 hatte die Steigerung nur 86,5 Punkte betragen. Selbst dem Federal Reserve Board schien jetzt der Zeitpunkt gekommen, den Schritt zu tun, den er im Februar noch verweigerthatte: Am 9. August wurde der Diskontsatz um ein Prozent angehoben.
Es waren vor allem Investmenttrusts, die die Spekulation mit Aktien förderten – eine in England und Schottland seit den 1880er Jahren eingeführte, in den USA erst spät übernommene Form der Ansammlung von Kapital. Anfang 1927 gab es in Amerika etwa 160 solcher Fonds; 140 kamen noch im gleichen Jahr dazu. Im Verlauf des Jahres 1928 wurden 186, 1929 nochmals 265 Investmentfonds gegründet. Das Volumen der von ihnen verkauften Anteile belief sich 1927 auf 400 Millionen, im Herbst 1929 auf geschätzte 8 Milliarden Dollar. Im Dezember 1928 rief Goldman, Sachs and Company in New York die auf das Investmentgeschäft spezialisierte Goldman Sachs Trading Corporation ins Leben. Am 26. Juli 1929 gründete diese als eigenen Trust die mit einem Kapital von über 102 Millionen Dollar ausgestattete Shenandoah Corporation, am 20. August gefolgt von der noch größeren Blue Ridge Corporation mit 142 Millionen Dollar. Beide Trusts waren durch einen gemeinsamen Board of Directors, unter ihnen der spätere Außenminister John Foster Dulles, verbunden. Binnen weniger Monate hatte sich Goldman Sachs damit an die Spitze des amerikanischen Investmentgeschäfts gestellt.
Um diese Zeit gab es längst ernste konjunkturelle Warnzeichen. Seit Jahren fielen die Ertragszahlen des Gebäudebaus, seit Juni die der Stahlindustrie, seit Oktober die der Güterwagenproduktion. Der industrielle Produktionsindex des Federal Reserve Board sank von 126 im Juli auf 117 im Oktober 1929. Ein Zusammenbruch der Börse war, bei nüchterner Betrachtung, nur noch eine Frage kurzer Fristen. Seit dem 21. Oktober fielen die Aktienkurse. Am 24. Oktober, dem «Schwarzen Donnerstag», stürzten sie so stark ab, daß in New York stundenweise bereits Panik herrschte; einige Spekulanten begingen Selbstmord. Eine gemeinsame Erklärung der größten Banken bewirkte dann nochmals eine vorübergehende Beruhigung.
Am 29. Oktober aber, dem «Schwarzen Dienstag», gab es kein Halten mehr. 16 Millionen Anteile wurden an der New Yorker Börse verkauft; der Index der Industrieaktien fiel um 43 Punkte oder um beinahe 10 Prozent, womit die gesamten Gewinne des vorangegangenen Jahres ausgelöscht waren. Am schlimmsten erging es den Investmenttrusts. Der Goldman-Sachs-Wert stürzte von 60 auf 35 Punkte ab; Blue Ridge hatte Anfang September bei 24 Punkten gelegen, fiel am24. Oktober auf 12 und am 29. Oktober von 10 zunächst auf 3 Punkte, um sich dann auf einem etwas höheren Niveau zu «erholen». Andere Fonds sanken ins Bodenlose. Die Welt trat im Oktober 1929 in das Stadium einer langanhaltenden, schweren Depression: ein Sachverhalt, der trotz der globalen Schockwellen, die der New Yorker Börsenkrach auslöste, den Zeitgenossen erst sehr viel später bewußt wurde.
Viele Gründe sind genannt worden, die erklären sollen, warum die «Große Krise» im Herbst 1929 in der weltweit größten Volkswirtschaft, der amerikanischen, ausbrach. Der Historiker Alan Brinkley führt insgesamt fünf an, die ihm besonders wichtig erscheinen. Er nennt
erstens
eine schwache Diversifikation der amerikanischen Wirtschaft der zwanziger Jahre – mit der Folge, daß die Prosperität vom Wohlergehen einiger weniger Branchen, obenan der Bau- und der Automobilindustrie, abhing. Der
zweite
Faktor war nach Brinkley das Zurückbleiben des Massenkonsums hinter den produzierten Gütern als Folge einer höchst ungleichmäßigen Einkommensverteilung.
Drittens
hebt der Autor die Kreditstruktur hervor, worunter er sowohl das betrügerische Verhalten vieler Schuldner kleiner Banken als auch die verantwortungslose Kreditvergabe von Großbanken
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