Geschichte des Westens
SA-Verbot einen, aber nicht seinen einzigen Grund. Der politisierende General war spätestens im April 1932 zu der Auffassung gelangt, daß die deutsche Staatskrise nur unter Einbeziehung der Nationalsozialisten gelöst werden konnte. Am 28. April und 7. Mai führte er Geheimgespräche mit Hitler. Zumindest bei dem zweiten Gespräch ging es um die Frage, unter welchen Bedingungen die NSDAP ein nach «rechts» hin um- oder neugebildetes Kabinett tolerieren würde. Seit dem 7. Mai kannte Schleicher Hitlers Preis: die Auflösung des Reichstags, Neuwahlen und die Aufhebung des Verbots von SA und SS. Hindenburg wußte von diesen Gesprächen. Was Brünings Position in beider, Hindenburgs und Schleichers, Augen weiter schwächte, war die Tatsache, daß der Kanzler und Außenminister am 30. April mit nahezu leeren Händen von der Abrüstungskonferenz in Genf zurückgekehrt war, die dort am 2. Februar ihre Arbeit aufgenommen hatte. Die Presse hatte gute Gründe zu der Annahme, daß sich der Reichskanzler nicht mehr lange im Amt würde halten können, nachdem Groener seinen Rücktritt als Reichswehrminister angekündigt hatte.
Während Hindenburg in Neudeck weilte, wurde eine andere Machtelite aktiv, die schon seit langem Brünings Sturz herbeiwünschte: der ostelbische Rittergutsbesitz. Der Reichslandbund, seit dem Herbst 1930 fest in den Händen der «nationalen Opposition», das heißt der Deutschnationalen und der Nationalsozialisten, war die einzige bedeutende wirtschaftliche Interessenorganisation, die sich vor dem zweiten Wahlgang der Reichspräsidentenwahl für Hitler ausgesprochen hatte. Am 21. Mai erhielt der wichtigste landwirtschaftliche Dachverband von der Reichsregierung selbst das Stichwort, das er benötigte, umeine großangelegte Kampagne gegen Brüning zu beginnen: Der Reichskommissar für die Osthilfe, Reichsminister Schlange-Schöningen, legte den vom Kabinett gebilligten Entwurf einer Siedlungsverordnung vor, die die Möglichkeit vorsah, nicht mehr entschuldungsfähige Güter «freihändig» oder auf dem Weg der Zwangsversteigerung für das Reich zu erwerben und für Zwecke der bäuerlichen Siedlung zu verwenden.
Unmittelbar nach der Bekanntgabe des Entwurfs wurden die Präsidenten des Reichslandbundes und des Deutschen Landwirtschaftstages sowie mehrere regionale Geschäftsstellen des Landbundes brieflich bei Hindenburg vorstellig. Der Tenor war in allen Eingaben derselbe. Das Zwangsversteigerungsrecht, so formulierte es der Direktor der Ostpreußischen Landgesellschaft, Freiherr von Gayl, bedeute ein weiteres «Abgleiten in den Staatssozialismus» und schwäche die «Widerstandskräfte der Kreise, welche bisher Träger des nationalen Wehrwillens gegenüber den Polen sind».
Der Druck zeitigte rasch die erhoffte Wirkung. Am 25. Mai ließ Hindenburg Schlange-Schöningen durch Staatssekretär Meissner wissen, daß er der Verordnung in der vorliegenden Fassung nicht zustimmen könne. Zwei Tage später sprach die deutschnationale Reichstagsfraktion in einer Entschließung mit Blick auf die Siedlungsverordnung von «vollendetem Bolschewismus». Spätestens seit dem 27. Mai konnte Hindenburg hinter sein Nein nicht mehr zurück: Gegen die Deutschnationalen war die von ihm gewünschte Rechtsschwenkung nicht durchzusetzen.
Nach Berlin zurückgekehrt, empfing der Reichspräsident am 29. Mai, einem Sonntag, Brüning, um ihm mitzuteilen, daß er den Rücktritt der Regierung erwarte. Am Vormittag des 30. Mai berichtete der Kanzler dem Kabinett von dem Gespräch mit Hindenburg. Kurz vor 12 Uhr überbrachte Brüning dem Staatsoberhaupt die Demission der Reichsregierung. Die Unterredung dauerte nur wenige Minuten. Um 12 Uhr mußte der Reichspräsident vor das Portal seines Amtssitzes treten, um eine Parade der Skagerrakwache, einer Ehrenformation der Marine, abzunehmen.
Von keinem Reichskanzler der Weimarer Republik läßt sich mit so viel Recht wie von Heinrich Brüning sagen, daß sein Charakterbild von der Parteien Gunst und Haß verzerrt in der Geschichte schwankt. Den einen gilt er als ein Mann, der die Grundlagen der deutschenDemokratie systematisch unterhöhlt hat und darüber zu einem unfreiwilligen Wegbereiter Hitlers wurde. Andere sehen in ihm den Vertreter einer konservativen Alternative sowohl zum gescheiterten parlamentarischen System als auch zur nationalsozialistischen Diktatur. Der zweiten Lesart zufolge war Brünings Politik auf weiten Strecken historisch notwendig und erst sein Sturz der
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