Geschichte des Westens
antiparlamentarischen Präsidialsystem zerstörten Hindenburg und die alten preußischen Machteliten diese Chance. Sie spitzten die Staatskrise dramatisch zu und brachten Deutschland damit in eine Lage, die mit verfassungsmäßigen Mitteln kaum noch zu meistern war.[ 28 ]
Stagnation und Systemkritik:
Frankreichs Dritte Republik 1929–1933
Während die USA, Deutschland und Großbritannien schwer unter der Weltwirtschaftskrise zu leiden hatten, konnte Frankreich sich im Jahr 1930 als eine Insel der Prosperität fühlen. Die wichtigsten Industriebranchen meldeten noch bessere Ergebnisse als im Vorjahr; die Automobilindustrie lag mit einer Jahresproduktion von 254.000 Fahrzeugen international an zweiter Stelle hinter den Vereinigten Staaten. Erst 1931 machte sich die Krise auch in Frankreich bemerkbar. Die Preise fielen, und die Produktionsziffern gingen zurück. 1931 lag der Produktionsindex der Eisenindustrie um 17 Punkte, 1932 um 48 Punkte unter dem Stand von 1929. Die Großhandelspreise erreichten 1934 noch 46 Prozent des Standes von 1929. 1931 brach unter skandalösen Begleitumständen die Banque Oustric zusammen. 1934 mußten die Citroën-Automobilwerke Konkurs anmelden; sie wurden nach einer Staatsintervention vom Reifenhersteller Michelin übernommen. Die Arbeitslosigkeit stieg, erreichte aber zu keiner Zeit britische, deutsche oder amerikanische Ausmaße. Für 1935 wird die Zahl der abhängig Beschäftigten auf 12,5 Millionen, die der erwerbslosen Arbeitnehmer auf eine halbe Million geschätzt.
Daß Frankreich von der Großen Depression weniger hart betroffen wurde als die hochentwickelten Industrieländer, verdankte es vor allem seiner relativen Rückständigkeit. Sein Industrialisierungsgrad war nach wie vor sehr viel niedriger als der deutsche, britische oder amerikanische. Bis zur Volkszählung von 1931 lebte die Mehrheit der Bevölkerung in Gemeinden mit weniger als 2000 Einwohnern. Die Landwirtschaft und die kleinen und mittleren Betriebe in Handwerk und Gewerbe bekamen die weltweite Depression sehr viel mehr zu spüren als die gut mit Kapital ausgestattete Großindustrie. Hatte die Krise in Frankreich später eingesetzt als in Deutschland, so dauerte sie hier auch länger als rechts des Rheins. In den frühen dreißiger Jahren begann eine Zeit der industriellen Stagnation, die bis Anfang der fünfziger Jahre anhielt. Die Historiker Serge Berstein und Pierre Milza sprechen im Hinblick auf den größten Teil der französischen Wirtschaft von einer zwei Jahrzehnte währenden Modernisierungssperre, die ihr Gegenstück im archaischen, protektionistisch geprägten ökonomischenDenken der Regierenden und der öffentlichen Meinung gefunden habe.
Die Pariser Regierungen stützten sich zunächst bis zu den Kammerwahlen vom Mai 1932 auf die rechte Mitte. In den knapp drei Jahren zwischen dem Rücktritt Poincarés im Juli 1929 und dem Ende der Legislaturperiode sah Frankreich acht Kabinette, darunter drei, die von André Tardieu geleitet wurden. Der geborene Pariser Tardieu, der lange als Clemenceaus «Kronprinz» gegolten hatte, war ein geschickter Repräsentant des französischen Großbürgertums. Er war sich der wirtschaftlichen Rückständigkeit seines Landes voll bewußt und setzte darum auf eine Stärkung der industriellen Kapazitäten, aber auch auf einen Ausbau der Sozialgesetzgebung. (Zu letzterem Bereich gehörten die stufenweise Einführung der schulgeldfreien Gymnasialbildung 1930 und die Einführung eines allgemeinen Kindergeldes 1932.) An der Spitze von zwei Kabinetten stand Pierre Laval, der aus Châteaudun im Departement Puy-le-Dome stammte und seine politische Laufbahn bei den Sozialisten begonnen hatte. Wie Tardieu rückte auch er in den Krisenjahren immer weiter nach rechts.
Außenminister blieb bis zum Januar 1932 Aristide Briand. Sein wichtigstes Ziel, ein deutsch-französischer Ausgleich als Unterpfand eines befriedeten Europa, verschaffte ihm die kontinuierliche parlamentarische Unterstützung der oppositionellen Sozialisten, die einst, bis 1910, seine politische Heimat gewesen waren. In Deutschland fand Briand nach dem Tod Stresemanns im Oktober 1929 aber nicht mehr die Partner, die er für eine erfolgreiche Fortsetzung seiner Außenpolitik gebraucht hätte. Den Ton gaben in Berlin seit 1930 Politiker und Diplomaten an, für die die Revision der Nachkriegsordnung das vordringlichste Anliegen war: Reichskanzler Heinrich Brüning, Außenminister Julius Curtius und der Staatssekretär
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