Geschichte des Westens
wollten, mußten sie um die Schichten kämpfen, aus denen sich der Massenanhang der faschistischen Bewegungen vor allem rekrutierte.
Der «Neosozialismus» war eine Reaktion auf die ideologische Sterilität und den politischen Immobilismus des offiziellen Parteisozialismus, wie ihn Léon Blum in Reinkultur verkörperte. Um die Einheit der Partei zu erhalten, hatte Blum die SFIO seit ihrer Neugründung 1920/21 durch Formeln zu integrieren versucht, von denen er hoffte, daß die auseinanderstrebenden Flügel mit ihnen leben konnten. Seine scholastisch anmutenden Distinktionen waren Ausdruck dieser Politikder Balance. Da aber die Mehrheit der «militants» links stand, glaubte der Parteiführer dem linken Traditionalismus mehr Rechnung tragen zu müssen als den reformistischen Vorstellungen der rechten Minderheit. Je mehr sich die wirtschaftliche Krise seit 1931 auch in Frankreich zuspitzte, desto deutlicher traten die politischen Defizite der SFIO hervor. Auf die neuen Herausforderungen gab sie immer nur die alten Antworten; auf das Drängen der rechten Aktivisten reagierte der Apparat fast nur noch administrativ. Seit dem Frühjahr 1933 gaben die Neosozialisten die Hoffnung auf eine Erneuerung der Partei von innen auf. Sie begannen, wie ihre Kontrahenten, die Spaltung für unvermeidbar zu halten.
Daß es auf dem Pariser Parteikongreß vom Juli 1933 zu einer Zerreißprobe kommen würde, war also absehbar. Die Wortführer der «Néos» machten der Parteimehrheit die Verständigung vollends unmöglich, als sie in ihrer Entschlossenheit, vom faschistischen Gegner zu lernen, bis zu einem Punkt gingen, wo sie sich selbst dem Verdacht aussetzten, auf dem Weg zum Faschismus zu sein. Als Marquet sich in einer Parteitagsrede zum Dreigestirn der Werte «ordre, autorité, nation» bekannte, gab Blum in einem Zwischenruf seinem «Entsetzen» Ausdruck. Sein Gefühl, daß sich bei einigen «Néos» faschistische Tendenzen abzeichneten, trog nicht. Déat und Marquet wurden in der Tat später zu Protagonisten der Bewegung, die sie 1933 noch zu bekämpfen glaubten. Andere Neosozialisten kehrten hingegen Jahre nach dem Bruch in den Schoß der SFIO zurück.
Der Pariser Parteikongreß verurteilte das Verhalten der Fraktion mit großer Mehrheit; Renaudel protestierte namens der «Néos» gegen dieses Verdikt; Blum führte mit einer Artikelserie im Parteiorgan «Populaire», in der er seinen Faschismus-Vorwurf zu erhärten versuchte, die ideologische Auseinandersetzung fort. Der endgültige Bruch wurde im Herbst 1933 vollzogen. Bei der Abstimmung über eine Budgetvorlage Daladiers stimmten am 24. Oktober 91 sozialistische Abgeordnete gegen die Regierung, 28 stimmten für sie, 11 enthielten sich. Am 4. und 5. November verfügte der Conseil National der SFIO den Parteiausschluß der führenden «Néos», darunter Renaudel, Déat, Marquet und Montagnon.
Dem von den Neosozialisten Anfang Dezember 1933 gegründeten Parti Socialiste de France – Union Jean Jaurès schlossen sich 27 Abgeordnete und 7 Senatoren der SFIO an. Die neue rechtssozialistischePartei fand keinen Massenanhang, aber der Bruch mit den «Néos» traf die SFIO doch sehr viel härter als zwei Jahre zuvor die Abspaltung der Sozialistischen Arbeiterpartei die deutschen Sozialdemokraten. Es war offenkundig, daß eine sozialistische Partei nicht nur durch ihren Reformismus, sondern auch durch einen orthodoxen Antireformismus in eine Krise geführt werden konnte.[ 29 ]
Die Kraft der Kontinuität:
Großbritannien in den frühen dreißiger Jahren
Früher und schwerer als Frankreich wurde Großbritannien von der Weltwirtschaftskrise getroffen. Das Vereinigte Königreich hatte die ganzen zwanziger Jahre über unter einer hohen strukturellen Arbeitslosigkeit zu leiden: 1921 hatte der Anteil der Erwerbslosen an der Arbeitnehmerschaft erstmals die Zahl von 10 Prozent überschritten und nur in einem Jahr, 1927, knapp unterschritten. 1929 lag der Anteil der Erwerbslosen bei 10,4 Prozent. Ihren Höhepunkt erreichte die Arbeitslosigkeit im Jahr 1932 mit 22,7 Prozent. Danach fiel sie, aber erst im Kriegsjahr 1940 lag sie wieder unter 10 Prozent. In absoluten Zahlen war die Arbeitslosigkeit mit knapp unter 3 Millionen zwischen August 1931 und Januar 1933 am höchsten. Im Sommer 1932 lag sie bei 2,5, im Juni 1932 bei etwas über 2 Millionen.
Von der Krise besonders betroffen waren die alten Industrieregionen in Mittel- und Nordengland, in Süd-Wales, Schottland und
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