Geschichte des Westens
Wahlgang der Kammerwahlen am 8. Mai erbrachte dank regionaler Wahlabsprachen zwischen den Sozialisten und denRadicaux eine Mitte-Links-Mehrheit. Die Radicaux-Socialistes wurden mit 157 Deputierten die stärkste, die SFIO mit 129 Mandaten die zweitstärkste Fraktion. Auf der Rechten gab es drei größere Fraktionen: die Union républicaine démocratique mit 76, die Républicains de gauche mit 72 und die Radicaux-Indépendants mit 62 Sitzen. Die Kommunisten kamen auf 12, die zwischen SFIO und PCF stehenden Socialistes-Communistes auf 11 Mandate. Paul-Boncours Républicains-Socialistes stellten 37 Abgeordnete.
Die bürgerlichen Radicaux-Socialistes waren eine in sich alles andere als einheitliche Partei. Der Parteivorsitzende Édouard Herriot, der den Auftrag zur Regierungsbildung erhielt, war inzwischen von links in die Mitte gerückt. Die Linken, unter ihnen die sogenannten «Jungtürken» Pierre Cot, Pierre Mendès-France und Jean Zay, bildeten die Minderheit. Für die künftige Zusammenarbeit zwischen Radicaux und Sozialisten war es kein gutes Vorzeichen, daß die meisten Radicaux bei der Präsidentenwahl gegen den sozialistischen Kandidaten Paul Faure und für Lebrun stimmten.
Herriot bot den Sozialisten eine gemeinsame Regierung an. Diese erklärten sich auf einem außerordentlichen Parteitag in Paris dazu grundsätzlich bereit, knüpften den Eintritt in die Regierung aber (mit der Zustimmung des reformistischen Abgeordneten Déat) an rigorose Bedingungen, die sogenannten «Cahiers d’Huyghens», darunter die Verstaatlichung der Eisenbahnen, der öffentlichen Verkehrsunternehmen und Versicherungsgesellschaften, eine scharfe Bankenaufsicht, die Einführung der Vierzig-Stunden-Woche und die Senkung der Militärausgaben. Da Herriot auf diesen Forderungskatalog nicht eingehen konnte, bildete er ein Kabinett, das überwiegend aus Radicaux und einigen Vertretern der Mitte bestand. Herriot selbst übernahm in Personalunion das Außenministerium. Der ehemalige Sozialist Paul-Boncour wurde Kriegsminister. Die Vertrauensabstimmung gewann das Kabinett Herriot dank der Tolerierung durch die Sozialisten.
In die kurze Amtszeit Herriots fiel die Reparationskonferenz in Lausanne, von der noch die Rede sein wird. Daß Herriot am 9. Juli einem Abkommen zustimmte, das die deutschen Reparationszahlungen faktisch beendete, ohne daß zuvor mit den USA eine Vereinbarung über die Beendigung der Zahlung der interalliierten Schulden abgeschlossen worden war, wurde ihm zum Verhängnis. Im Gegensatz zur Mehrheit der Kammer und auch seiner eigenen Partei war der Ministerpräsidentbereit, die nach Ablauf des Hoover-Moratoriums Ende 1932 fällige Rate für 1932 an die Vereinigten Staaten zu überweisen. Am 14. Dezember 1932 erlitt er bei der Abstimmung hierüber eine Niederlage und mußte zurücktreten.
Dem Sturz Herriots folgten bis Ende Januar 1934 vier kurzlebige Kabinette unter Joseph Paul-Boncour, Édouard Daladier, Albert Sarraut und Camille Chautemps. Hauptursache der innenpolitischen Labilität waren die tiefen Meinungsverschiedenheiten zwischen Radicaux und Sozialisten in der Wirtschafts-, Finanz- und Währungspolitik. Die linksbürgerlichen Kabinette betrieben eine deflatorisch wirkende Sparpolitik und beharrten, trotz der Nachteile für die Exportwirtschaft und der hohen sozialen Kosten, auf der Beibehaltung des Goldstandards, den Großbritannien und die USA inzwischen, diese im September 1931, jene im April 1933, aufgegeben hatten. Die Sozialisten waren gegenteiliger Ansicht, wobei die Parteiorganisation sehr viel antigouvernementaler auftrat als die Fraktion.
Im Mai 1933 kam es zu einem schweren Konflikt zwischen dem Parteivorstand und der Fraktion der SFIO, nachdem diese gegen den erklärten Willen der Parteiführung für das Haushaltsgesetz der Regierung Daladier gestimmt hatte. Die reformistische Kerngruppe um Pierre Renaudel und Paul Ramadier und die jüngeren Abgeordneten Marcel Déat, Adrien Marquet und Barthélemy Montagnon, die «Neosozialisten» oder «Néos», legten ihre Position in einer Plattform dar, in der sie sich zur Zusammenarbeit mit der bürgerlichen Linken, zu einem sozialen Patriotismus und der sozialen Öffnung gegenüber den Mittelschichten bekannten. Namentlich Déat sah in der Umwerbung der Mittelschichten die wichtigste Lektion aus dem Scheitern der deutschen Sozialdemokraten und damit letztlich dem Untergang der Weimarer Republik: Wenn die Sozialisten dem Faschismus den Weg verlegen
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