Geschichte des Westens
sich die deutschen Sozialdemokraten anders verhielten und mit bürgerlichen Parteien Regierungsbündnisse eingingen, war das aus Blums Sicht durchaus zu verantworten (und schon aus außenpolitischen Gründen zu begrüßen). Die Gefahr der «confusion» war in Deutschland nämlich viel geringer als in Frankreich, denn die Partner der SPD waren katholische und liberale Parteien, also Kräfte, die sich von den Sozialisten klar unterschieden, und nicht bürgerlich-progressive, entschieden republikanische und laizistische Radikalsozialisten, die den Sozialisten in vielen Bereichen relativ nahestanden. Für das eigene Land kam im Regelfall also nur die Unterstützung einer Regierung in Frage, die sich der Reaktion nachdrücklich entgegenstellte. Die Grenze zur Regierungsbeteiligung nicht zu überschreiten war, so gesehen, für die französischen Sozialisten geradezu ein Gebot der Selbsterhaltung. Eine Änderung dieser Position stellte Blum in der Folgezeit nur für den Fall in Aussicht, daß es der SFIO gelingen sollte, wie die SPD zur stärksten Fraktion des Parlaments aufzusteigen.
Innerhalb der SFIO war Blums Doktrin keineswegs unumstritten. Im Oktober 1929 sprach sich die Fraktion erstmals gegen den erbitterten Widerstand ihres Vorsitzenden mit großer Mehrheit für eine «participation ministérielle» aus. Nur ein Veto des Parteivorstands konnte eine Koalitionsregierung aus Radicaux und Sozialisten verhindern (und damit dem ersten Kabinett Tardieu an die Macht verhelfen). Der Wortführer der «Partizipationisten», der «rechte» Pierre Renaudel, ließ sich von diesem Rückschlag nicht entmutigen. Er gewann den Vater der Resolution von 1900, Karl Kautsky, für ein fulminantes, nicht zuletzt außenpolitisch begründetes Plädoyer zugunsten einer sozialdemokratischen Koalitionspolitik, das in der Neujahrsausgabe 1930 des «Vorwärts» und im Januarheft der von Renaudel herausgegebenen «Vie Socialiste», dem Organ der Reformisten, erschien. «Es gibt Situationen», schrieb Kautsky, «in denen das Übel der Koalitionsregierungdas
kleinere
Übel ist gegenüber den
größeren
, die uns drohen, wenn wir die Verfügung über die ungeheuren Machtmittel des Staates unseren schlimmsten Gegnern ausliefern, obwohl wir diese Gefahr durch Eintritt in die Koalition vermindern könnten.»
Auf dem außerordentlichen Parteitag der Sozialisten Ende Januar 1930 erlitten die «Partizipationisten» erneut eine Niederlage. Als der «rechte» Abgeordnete Marcel Déat ankündigte, die Minderheit werde sich weiterhin für ihre Meinung einsetzen, schleuderte ihm der Generalsekretär der SFIO, Paul Faure, eine Kampfansage entgegen, die viele um die Einheit der Partei fürchten ließ. Daß eine derart zerstrittene Partei objektiv nicht regierungsfähig war: die SFIO hatte es, sehr gegen den Willen der «Partizipationisten», vor aller Welt demonstriert. Im Jahr darauf nahm eine Gruppe von Reformisten unter Führung des Abgeordneten Joseph Paul-Boncour einen anderen Konflikt, den Streit um die Landesverteidigung, auf dem Parteitag in Tours im Mai 1931, zum Anlaß, einen Schlußstrich zu ziehen: Paul-Boncour und seine Anhänger traten aus der SFIO aus und gründeten eine neue Partei, die Républicains Socialistes, die sich im Gegensatz zu den Sozialisten klar zu einer Politik hinreichender militärischer Stärke bekannten.
Am 1. Mai 1932 fand der erste Wahlgang der Wahlen zur Deputiertenkammer statt. Die bisherigen Regierungsparteien hatten zuvor noch gegen den Widerstand der Linken das Wahlrecht geändert: Danach war ein Kandidat gewählt, wenn er im ersten Wahlgang mindestens 40 Prozent der Stimmen erhielt, so daß sich ein zweiter Wahlgang erübrigte. Dennoch erhielt die Linke insgesamt rund 1 Million mehr Stimmen als die Rechte, wobei die SFIO mit 1,96 Millionen vor den Radicaux («Radicaux-Socialistes») mit 1,84 Millionen lag. Die Kommunisten fielen von 1,06 Millionen auf 797.000 Stimmen. Die radikale Rechte war nicht angetreten. Am 7. Mai, einen Tag vor dem zweiten Wahlgang, wurde der im Jahr zuvor gewählte Präsident der Republik, Paul Doumer, bei der Eröffnung einer Buchausstellung von einem antikommunistischen russischen Emigranten ermordet, der auf diese Weise dagegen protestieren wollte, daß Frankreich nichts unternahm, um das Sowjetregime zu Fall zu bringen. Am 10. Mai wählten Senat und Deputiertenkammer als Nationalversammlung den konservativen Senatspräsidenten Albert Lebrun zum neuen Staatsoberhaupt.
Der zweite
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