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Geschichte des Westens

Geschichte des Westens

Titel: Geschichte des Westens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich August Winkler
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letzten parlamentarischen Mehrheitsregierung und den Übergang zum Präsidialregime. In Großbritannien hatten das Veto der Gewerkschaften und der Riß innerhalb der Labour Party die Bildung einer alternativen Mehrheitsregierung zur Folge. Zur gleichen Zeit, als in England die kleine rechte Minderheit der Arbeiterpartei sich als National Labour neu konstituierte, spaltete sich in Deutschland am linken Rand der SPD aus Protest gegen die Tolerierungspolitik die Sozialistische Arbeiterpartei ab, die bei den Wählern noch geringeren Anhang finden sollte als National Labour. In beiden Ländern bedeutete die Partei- und Regierungskrise einen Machtverlust der Sozialdemokratie und einen Ruck nach rechts. In Deutschland geriet dadurch die parlamentarische Demokratie unmittelbar in Gefahr. In Großbritannien hingegen konnte sich das parlamentarische System auch in der Krise behaupten.
    Im September 1931 überstürzten sich im Vereinigten Königreich die Ereignisse. Zur Stützung des Pfundes wurden neue Anleihen aufgenommen. Schatzkanzler Snowden legte einen Nothaushalt vor, der den Beschäftigten des öffentlichen Dienstes Gehaltskürzungen von 10 Prozent auferlegte; bei den Lehrern waren es sogar 15 Prozent, während die Polizisten aus Sorge um die öffentliche Sicherheit mit 5 Prozent davonkamen. Am 15. September kam es auf der Flotte vor Invergordon zu einer Meuterei gegen eine Soldkürzung. Am 21. September sah sich die Regierung auf Anraten der Bank of England genötigt, den Schritt zu tun, den sie bislang immer abgelehnt hatte: Großbritannien gab die Bindung des Pfunds an den Goldstandard auf und wertete damit das Pfund Sterling ab. Es fiel von 4,86 Dollar erst auf 3,80, dann auf 3,40 Dollar. Ein wirksameres Mittel der Krisenbekämpfung hätte der Regierung gar nicht einfallen können. Daß die britische Wirtschaft sich seit dem Sommer 1932 zu erholen begann, hing ursächlich mit dergestiegenen Wettbewerbsfähigkeit der Exportindustrie und nicht zuletzt der Automobilbranche zusammen.
    Für die Außenwelt hatte die Londoner Entscheidung fatale Konsequenzen, die der britische Wirtschaftshistoriker Adam Tooze wie folgt beschreibt: «Der Anker des globalen Finanzsystems hatte sich losgerissen. Großbritanniens Abschied vom Goldstandard verwandelte eine tiefe Rezession in eine weltwirtschaftliche Katastrophe. Bis Ende September waren zwölf Staaten Großbritannien gefolgt und hatten ihre Wechselkurse ebenfalls freigegeben. Elf weitere Länder werteten ihre Devisenkurse unter Beibehaltung des Goldpreises ab. Die Staaten, die im alten Paritätsverhältnis beim Gold geblieben waren – Deutschland, Frankreich und die Niederlande –, hatten keine andere Wahl, als ihre Zahlungsbilanzen durch drakonische Beschränkungen der Konvertierbarkeit und den Protektionismus ihrer Währungen zu verteidigen.» Tooze führt es wesentlich auf die britische Pfundabwertung zurück, daß das Volumen der deutschen Exporte 1931/32 um weitere 30 Prozent fiel.
    Es entsprach dem britischen Verständnis von Demokratie, daß das National Government trotz parlamentarischer Mehrheit sich zum frühestmöglichen Zeitpunkt ein Mandat der Wähler verschaffen wollte. Wahlen wurden auf den 27. Oktober 1931 festgesetzt. Die Regierungsparteien traten gemeinsam an, das heißt sie verständigten sich für jeden Wahlkreis auf
einen
Kandidaten. Niemand griff im Wahlkampf die Labour Party so scharf an wie Philip Snowden: Er behauptete, bei der Wahl gehe es um die Entscheidung zwischen Wohlstand und Untergang (between prosperity and ruin), und warf seinen ehemaligen Parteifreunden einen «verrückt gewordenen Bolschewismus» (bolschevism run mad) vor. Die Konservativen warben offen für Schutzzölle; ein erheblicher Teil der Liberalen um Sir John Simon, 29 von 59 Abgeordneten, schloß sich dieser Forderung im Sinne einer Notmaßnahme an und kandidierte als Liberal National Party; 30 liberale Parlamentarier mit Sir Herbert Samuel an der Spitze blieben Freihändler. Gemeinsam baten die Parteien des National Government die Wählerinnen und Wähler um «a doctor’s mandate», also eine Vollmacht, das jeweils Notwendige zu tun.
    Das Ergebnis der Wahl war ein Triumph für die Regierungsparteien. Sie gewannen 67 Prozent der Stimmen und stellten 554 Abgeordnete. Auf die Konservativen entfielen bei einem Stimmenanteil von55 Prozent 473 Mandate, auf die Liberal National Party 35, auf die Liberal Party 33, auf National Labour 13 Sitze. Die Stimmenanteile der drei

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